Die deutsche Krimiliebe: „Kann daran historisch verfolgen, was für Moralvorstellungen galten“
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Beliebte Ermittlerinnen in Deutschlands bekanntester Krimireihe, dem „Tatort“: Lena Odenthal (Ulrike Folkerts, links) und Johanna Stern (Lisa Bitter).
© Quelle: SWR/Benoit Linder
Dennis Gräf hat sich schon 2010 in seiner Promotion mit dem Thema „Tatort. Ein populäres Medium als kultureller Speicher“ beschäftigt. Seitdem hat sich der Medienforscher und Literaturwissenschaftler immer wieder mit Krimis wie „Tatort“ und „Polizeiruf 110″ auseinandergesetzt. Im RND-Interview spricht er darüber, was die deutschen Krimis – auch im Gegensatz zu denen anderer Länder – ausmacht und wie sie für Zuschauerinnen und Zuschauer funktionieren:
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Dennis Gräf von der Uni Passau hat zum Thema "Tatort" promoviert.
© Quelle: privat
Herr Gräf, die Deutschen lieben ihre Krimis. Aber was macht die Filme eigentlich aus?
Jedes Kriminarrativ hat eine Ordnung, die durch eine Tat in Instabilität gerät. Dann ist es Aufgabe des Detektionsprozesses, diese Störung wieder aufzuheben, sodass am Ende des Films eine neue Ordnung dasteht, die auch eine gesellschaftliche Stabilität zeigt: Der Detektionsprozess hat funktioniert, die Tat wurde vom Staat sanktioniert. Das kann eine juristische Ordnung sein, es geht aber im Krimi immer auch um eine moralische Ordnung, weil durch kriminelle Handlungen auch Fragen von Moral betroffen sind. Ich glaube, dass dieses Prinzip der Wiederherstellung einer moralischen und rechtlichen Ordnung schon sehr wichtig für die Frage ist, warum Menschen gern Krimis schauen.
Seit wann hat sich dieses Ordnungsprinzip in Krimis etabliert?
Das machen Krimis, egal ob in der Literatur oder im Film, schon immer. Wenn man Krimiliteratur des 19. Jahrhunderts liest, ist das auch so: Es geht immer darum, dass ein Fall, der auch eine Frage der moralischen Abweichung behandelt, aufgeklärt und dadurch wieder Ordnung hergestellt wird. Auch wenn man sich das deutsche Fernsehen anguckt, geht das sehr früh los. Ab Ende der 50er-Jahre hatten wir die sogenannten Straßenfegerfilme, ab 1953 schon die Sendung „Der Polizeibericht meldet“. 1958 kam dann „Stahlnetz“, da wurde deutlich gemacht, dass Polizei und Staat die zentralen Instanzen sind, um Ordnung wiederherzustellen. Darin sind die Täter ganz klar böse. In den 50ern hatte man da eine starke Didaktisierungstendenz, die den Zuschauern klar machte: Verbrechen lohnt sich nicht. Im Prinzip setzte sich das in der Bundesrepublik fort. Wir hatten Ende der 60er-Jahre den „Kommissar“ und Mitte der 70er den „Alten“ und „Derrick“. Das sind sehr patriarchale Ermittlerfiguren mit konservativen Auffassungen. Dieses Ordnungsparadigma zieht sich eigentlich von Beginn des deutschen Fernsehens bis heute durch. Man kann an den Krimis historisch verfolgen, was für Werte und Moralvorstellungen in welcher Zeit galten.
Wenn man sich den „Tatort“ oder „Polizeiruf“ heute anschaut, werden Täterinnen und Täter aber auch mal empathisch dargestellt, Kommissarinnen und Kommissare sind nicht unfehlbar. Was hat sich da geändert?
Zum einen ist die Didaktisierungstendenz teilweise weggefallen, zum anderen hat sich die Komplexität der Welt und unseres Lebens deutlich erhöht, was sich auch auf die Filme auswirkt. Vor allem ab 2000 haben die Krimis moralische Aushandlungsprozesse vorgeführt, ohne die Täterinnen und Täter dabei gleich als ablehnenswert zu präsentieren. Wer ein Leben lang unschuldig soziale Ungerechtigkeit erduldet und dann mordet, wird zwar nicht von der Schuld moralisch freigesprochen, aber es wird ein differenzierteres Bild darauf geworfen, welche gesellschaftlichen Umstände die Figur haben morden lassen. Gleichwohl vermitteln die Krimifilmwelten Wertesets und moralische Vorstellungen, und diese müssen wir als Zuschauerinnen und Zuschauer immer hinterfragen.
Bei klassischen Krimis weiß das Publikum also, was für Strukturen und Muster es bekommt. Warum langweilt das die Menschen nicht, sondern funktioniert nach so vielen Jahrzehnten immer noch?
Das funktioniert vor allem bei den großen Reihen „Tatort“ und „Polizeiruf 110“. Das hat auch damit zu tun, dass der „Tatort“ seit 1970 und der „Polizeiruf“ seit der Wende – vorher im sozialistischen Fernsehen hat er klar anders funktioniert – immer auch Gegenwartsthemen verhandeln. Das haben wir auch in anderen deutschen Dauerserien wie der „Lindenstraße“ gehabt. Da hat man auch das Prinzip, dass man über Jahrzehnte ein Format hat, das sich an aktuellen gesellschaftlichen Diskursen abarbeitet. Das macht „Tatort“ und „Polizeiruf“ aus. Das andere ist, dass diese Gegenwartsdiskurse sehr konsensual verhandelt werden. Das will ich den Krimis nicht unbedingt vorwerfen, denn natürlich hat die ARD ein Interesse daran, dass so viele Zuschauerinnen und Zuschauer wie möglich einschalten. Aber das heißt, dass im „Tatort“ und „Polizeiruf“, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nie extreme Werte gesetzt werden. Das heißt auch, dass Diskurse nicht in allen Facetten ausgeleuchtet werden – aber das müssen sie auch nicht. Denn Filme sind Wirklichkeitskonstruktionen und können sich aussuchen, wie sie mit realen Diskursen umgehen.
Wenn gesellschaftliche Diskurse die Krimis spannend machen, ist das aber kein krimieigenes Merkmal, oder? Das tun ja, wie Sie sagen, auch Serien anderer Genres, beispielsweise die „Lindenstraße“…
Ja, aber die „Lindenstraße“ ist alles andere als spannend (lacht). Beim Krimi kommt der Spannungsaspekt dazu. Filme und Krimis im Besonderen sind eher emotionalisierend und weniger rational. Es geht vor allem um Spannung und die wird nicht nur durch Handlung erzeugt, sondern auch über Filmmusik. Da unterscheiden sich Krimis schon von anderen, nicht auf Spannung angelegten Formaten. Deshalb sind aber auch die Fragen der Moral eher mit dieser emotionalisierenden Dramaturgie verknüpft. Wobei das im Nachgang oft nochmal auf eine sachliche Ebene gehoben wird. Das ist das Schöne: Den „Tatort“ gibt es seit mehr als 50 Jahren und am Montag wird immer noch in Büros darüber diskutiert. Was im Moment der Rezeption eher emotional sein mag, kann durchaus später im gesellschaftlichen Diskurs wieder auf eine rationale Ebene gehievt werden.
Wenn wir nochmal auf das Ordnungsprinzip blicken: Es gibt nun aber auch mal „Tatorte“, in denen der Täter oder die Täterin am Ende nicht gefasst wird. Das bricht ja dann mit dieser Struktur, oder?
Nein, es wird schon eine Ordnung wiederhergestellt. Das ist dann eine Ordnung, in der Positionen vertreten werden, die vielleicht doch nicht so konsensual sind. Ich erinnere mich an den Frankfurter „Tatort: Weil sie böse sind“ aus dem Jahr 2010, der heiß diskutiert wurde, weil der Täter hier nicht geschnappt und sanktioniert wird. Der Film hat symbolisch die strukturelle Benachteiligung des auf den Wohlfahrtsstaat angewiesenen Bürgers gegenüber den Superreichen, die ihr Kapital auch schon historisch immer zulasten der ‚kleinen Leute‘ gemacht haben, gezeigt; als Zuschauerin oder Zuschauer kann man durchaus Verständnis für den Täter haben. Man hätte juristische Regeln, die klar sagen: Dieser Mensch hat Morde verübt und muss dafür sanktioniert werden. Aber hier werden Recht und Gerechtigkeit entkoppelt. Das ist eine spannende Funktion, die ein Fernsehkrimi haben kann, weil er dadurch einen gesellschaftlichen Moraldiskurs auslösen kann. Man hat in den letzten 50 Jahren gesehen, dass der „Tatort“ durchaus mit manchen herausragenden Folgen in der Lage war, gesellschaftlich für Diskussionsanreize zu sorgen.
Mein Eindruck ist, dass experimentelle „Tatorte“ häufiger in der Kritik stehen. Glauben Sie, dass Zuschauerinnen und Zuschauer die weniger mögen, weil sie auch von Strukturen abweichen?
Ich glaube schon, dass viele Leute wollen, dass alles nach konventionellen Regeln läuft. Daran zeigt sich auch, wie eine Gesellschaft funktioniert und wie bereit sie für abweichende Darstellungen ist. In unserer Kultur ist es nicht so, dass man im Fernsehen viel Platz hat für Unkonventionelles.
Wie unterscheiden sich deutsche Krimis da von anderen Ländern?
Wenn ich mir beispielsweise britische oder österreichische Krimis angucke, haben beide eine Sache, die wir in deutschen Krimis überhaupt nicht haben: Humor. Der deutsche Krimi hat eine gewisse Ernsthaftigkeit. Wie ein Krimi funktioniert, hat auch etwas mit der Kultur und Mentalität der Menschen zu tun. Da ist es schon interessant, dass die deutschen Krimis insgesamt doch sehr ernsthaft sind. Da kann mal geschmunzelt werden, aber da gibt es keinen abgründigen Humor.
Ein paar Unterschiede gibt es da aber doch: Der Münster-„Tatort“ beispielsweise lebt schon auch vom Humor.
Stimmt, das hat sich ein bisschen aufgelöst mit dem Münster-„Tatort“ und auch mit dem aus Weimar mit Nora Tschirner und Christian Ulmen. Da kann man durchaus von Humor sprechen. Da verändert sich in letzter Zeit einiges. Das ist auch gut: Wir haben auch weibliche Ermittlerduos, die ihren männlichen Chefs auch mal ordentlich einschenken, da sieht man, dass sich Geschlechterrollen ändern. Und wir haben im Göttinger „Tatort“ jetzt auch eine schwarze Ermittlerin. Aber die Entwicklung ist schon sehr schleppend.
Sie haben eben die Ernsthaftigkeit der deutschen Krimis betont, und dass das etwas mit der Mentalität zu tun hat. Heißt das im Umkehrschluss, dass die Deutschen besonders ernsthaft und ordnungsliebend sind?
(lacht) Ja, vielleicht ist da eine Art Ernsthaftigkeit, das könnte man schon sagen. Das stimmt sicherlich historisch für die 70er-Jahre, für Teile der 80er und 90er auch noch, aber für die Gegenwart nur noch bedingt.
Also gibt es schon einen Wandel.
Ja, aber das gilt nur für die großen Formate. Wir werden im Fernsehen ja wirklich erschlagen mit Krimis. Allein diese ganzen „SOKOs“ funktionieren anders, da hat man den gesellschaftlichen Bezug nicht. Bei diesen ganze Serien wie „Notruf Hafenkante“, „Wasserpolizei“ oder „Großstadtrevier“ gibt es eine dramaturgische Verkürzung auf den Detektionsprozess. Die Folgen dauern meistens auch nicht so lange, da geht es nur darum, dass eine Straftat sanktioniert wird und die moralische Instanz siegt. Da fällt der gesellschaftliche Aspekt meistens raus, es geht eher um allgemeine moralische Lehrsätze.