„Die Einöde“: spanischer Seelenhorror bei Netflix
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In der Einsamkeit naht die „Bestie“: Diego (Asier Flores) und Mama Lucia (Imma Cuesta) sind allein und drohen in der Einöde dem Wahnsinn zu verfallen.
© Quelle: LANDER LARRAÑAGA/NETFLIX
Der Film heißt „Die Einöde“, und selten war ein Titel so deprimierend genau gewählt. Vom Anblick dieser trostlosen Grasweite bekommt man graue Wimpern. Das Haus der kleinen Familie liegt geduckt in dieser tristen Seelenlandschaft, ein löchriges Strohdach darüber, das aussieht, als würde es sich mit der erstbesten Windhose vermählen. Seltsame Pfähle mit Querbalken sind in größeren Abständen um das Gebäude gereiht. Ihnen wird eine Aufgabe zugesprochen, die sie gar nicht erfüllen können. Sie sind die von Familienvater Salvador festgelegte Grenze zu einer Welt des Hasses und der Grausamkeit. Steht man dahinter, ist alles gut, verlässt man die Sicherheitszone, ist alles möglich. „Hinter den Pfählen ist nichts als Krieg“, sagt der Vater.
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Die Zeit, in der David Casademunts Langfilmdebüt spielt, ist grob das 19. Jahrhundert. Kriege, so heißt es, haben das Land verheert, viele Spanier zögen sich in die Isolation zurück. Der kleine Diego (Asier Flores) zerbricht eines Nachts seine Bettpfanne und muss deshalb hinaus auf die Latrine, die in spektakulär weitem Abstand zum Haus steht. Alle Bäume sind kahle Schatten mit Ästen wie Klauen, Nebel schwebt über den braunen Gräsern. Der Junge ist ängstlich, und der ihn begleitende Vater hat nichts übrig für Angst. Ein Mann soll Diego werden, möglichst schnell, es sind keine Zeiten für Kinder. Aber das Kaninchen, das er töten und ausweiden soll, lässt er laufen. Das Gewehr mit dem im Kolben eingekerbten Namen empfindet die Mutter als viel zu frühes Geburtstagsgeschenk für den verspielten Sohn.
Lucia (Imma Cuesta) ist eine Frau voller Lebensfreude und voll mütterlichem Verständnis. Aber sie bringt dem Sohn zugleich gruselige Lieder über Frauenmörder und Kannibalen bei. Und der Vater, der in scheinbar unbeobachteten Augenblicken schon mal den Lauf der Flinte unter sein Kinn setzt, erzählt Diego die seltsame Geschichte seiner Schwester, die eines Tages „der Bestie“ ansichtig wurde, die sich dann Tag um Tag näher an sie heranpirschte, bis sie – für Salvador unsichtbar – im Kinderzimmer stand. In seinem Bett habe Juana Schutz suchen wollen, er habe sie jedoch verwiesen – mit schrecklichem Ergebnis.
Wahnsinn ist schlimmer anzuschauen als alle Ungeheuer
Eines Tages muss Salvador wegreiten, um den Leichnam eines feindlichen Soldaten bei dessen Familie abzuliefern – und kommt nicht mehr wieder. Und natürlich naht während seiner Abwesenheit „die Bestie“. Das Miteinander von Mutter und Sohn verändert sich, die Vertrauten werden einander angesichts der Bedrohung und durch die Einsamkeit fremder. Der Aufgabe als Beschützerin ist Lucia immer weniger gewachsen. Wahnsinn zieht herauf. Dem zuzuschauen ist unheimlicher als die Präsenz des Monstrums.
„Die Einöde“ kann man unter Horror verbuchen, wobei der Zuschauer sich hier keine klassische Handlung erhoffen darf und ein Faible für Atmosphäre, für allerleisestes Grauen haben muss, dessen Quelle – Übernatürliches und/oder Psychologisches? – nicht eindeutig feststeht. Die Zurschaustellung des Monsters erfolgt lange auch nur über besonders stockschwarze Schatten und ein paar unvermittelte Bewegungen dort, wo sich nichts bewegen dürfte. Erst spät und nur für ein paar Augenblicke ist der Nachtmahr in seiner vollen Pracht zu sehen und sieht aus, als sei er eine der ins Riesenhafte gewachsenen Holzfiguren, die Diego schnitzt und vor denen er – was sonst? – Angst hat.
Die er überwinden muss. Im geradezu erzwungenen Coming of Age des kleinen Diego zeigt sich eine pessimistische Weltsicht: Wenn die Einheit der Familie zerschlagen ist, kann man keine Hilfe und kein Mitgefühl erwarten, ist nichts und niemand mehr da, was einen schützt. Sicherheit findet man dann nur noch in sich selbst, und „die Bestie“ vor einem hat nur dann keine Chance, wenn man rechtzeitig die Bestie in sich selbst entfesselt und sie sich nicht mehr an Furcht und Traurigkeit laben kann.
Im Sieg über die Angst geht freilich auch die Unschuld verloren. Diego zeigt immer mehr die Grausamkeit und Härte der Großen. Die Einöde, die hässliche Seelenlandschaft, ist nun auch in ihm. Und wenn er in die Welt hinauszieht, ist er farblich von dieser schlimmen Umgebung nicht mehr zu trennen.
„Die Einöde“, 92 Minuten, Regie: David Casademunt, mit Imma Cuesta, Asier Flores, Roberto Álamo (streambar bei Netflix)