Erdogans Rache: Wie der türkische Staatschef Künstler und Journalistinnen verfolgt
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Polizeibeamte eskortieren Sedef Kabas, eine bekannte türkische Journalistin, vor einer Gerichtsanhörung in Istanbul.
© Quelle: Uncredited/IHA/dpa
Istanbul. 27 Menschenrechtsgruppen und Journalistenverbände verlangen in einer gemeinsamen Erklärung die Freilassung von Sedef Kabas. Die prominente Journalistin wurde am 22. Januar um 2 Uhr früh in ihrer Wohnung in Istanbul verhaftet und sitzt seitdem im Bakirköy-Gefängnis. Kabas erwartet eine Anklage wegen „Präsidentenbeleidigung“. Darauf stehen nach Paragraf 299 des türkischen Strafgesetzbuches bis zu vier Jahre Haft.
Sechs Tage vor ihrer Verhaftung hatte die 53-jährige Journalistin in einer Sendung des Fernsehsenders Tele1 ein türkisches Sprichwort zitiert: „Ein Ochse kann es in den Palast schaffen, aber dadurch wird der Ochse nicht zum König, sondern der Palast zum Stall.“ Präsident Erdogan bezog das offenbar auf sich. Er hat die Verfolgung der Journalistin zur Chefsache erklärt: „Dieser Angriff darf nicht ungestraft bleiben“, sagte Erdogan in einem Interview mit dem Sender NTV. „Es ist unsere Pflicht, den Respekt vor dem Amt des Präsidenten zu schützen“, so Erdogan.
170.000 Ermittlungsverfahren wegen Präsidentenbeleidigung
Die staatliche Medienaufsicht RTÜK verhängte wegen des umstrittenen Zitats bereits gegen Tele1 eine hohe Geldstrafe und ein fünftägiges Sendeverbot. Wann der Prozess gegen Sedef Kabas beginnt, ist noch unklar. In einer gemeinsamen Erklärung setzen sich jetzt Organisationen wie das Internationale Presseinstitut (IPI), die Vereinigung Europäischer Journalisten (AEJ) und das Komitee zum Schutz von Journalisten (CPJ) für die Freilassung der Journalistin ein. Zu den Unterzeichnern des Appells gehören auch die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) sowie mehrere nationale Zentren des weltweiten Autorenverbandes Pen International, darunter auch Pen Deutschland.
Die Organisationen verweisen in ihrer Erklärung auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom vergangenen Oktober. Der EGMR entschied damals, dass der Paragraf 299 zur Präsidentenbeleidigung unvereinbar mit der Meinungsfreiheit sei. Der seit 2014 als Staatspräsident amtierende Erdogan macht von den Möglichkeiten des Paragrafen mehr Gebrauch als jeder seiner Vorgänger. Nach Daten des türkischen Justizministeriums wurden seit 2014 in der Türkei über 170.000 Ermittlungsverfahren wegen „Präsidentenbeleidigung“ eingeleitet. In 35.507 Fällen kam es zur Anklage, 12.881 Angeklagte wurden verurteilt. Zum Vergleich: In der siebenjährigen Amtszeit von Erdogans Vorgänger Abdullah Gül gab es nur 233 Verurteilungen wegen Präsidentenbeleidigung.
Wirbel auch um Aussagen über Sezen Aksu
Die Journalistin Sedef Kabas ist nicht die Einzige, die Erdogans Zorn auf sich zieht. Auch die Popikone Sezen Aksu hat Erdogan jetzt aufs Korn genommen. Die von vielen Menschen in der Türkei verehrte Sängerin hatte zum Jahreswechsel die Neufassung ihres bereits aus dem Jahr 2017 stammenden Songs „Das Leben ist wunderbar“ herausgebracht. Eine Zeile des Liedes lautet: „Wir sind unterwegs in die Apokalypse, grüßt mir die unwissenden Adam und Eva.“
Adam gilt im Islam als Prophet. Zunächst nahm ein Imam an dem Liedtext Anstoß, dann die staatliche Religionsbehörde Diyanet. Die Medienaufsicht RTÜK warnte Radio- und TV-Sender davor, den Aksu-Song zu spielen, sonst drohten Sanktionen. Schnell schaltete sich auch Erdogan ein. Nach dem Freitagsgebet in einer Moschee griff er zum Mikrofon und sagte: „Niemand darf schlecht über unseren Propheten Adam und unsere Mutter Eva sprechen. Tut das jemand, ist es unsere Pflicht, ihm die Zunge herauszureißen.“
Die Anwaltskammer von Izmir warf dem Staatschef „Lynchmentalität“ vor. Mehr als 200 türkische Künstlerinnen und Künstler solidarisierten sich in einer Erklärung mit Aksu. Inzwischen scheint auch Erdogan gemerkt zu haben, dass er mit seiner brutalen Drohung gegen die populäre Sängerin zu weit gegangen ist. In einem TV-Interview erklärte er, seine Worte hätten sich gar nicht auf Aksu bezogen.