Flaggschiff unter Feuer: Wie die “Tagesschau” an ihrer Zukunft arbeitet
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„In der ‚Tagesschau' um 20 Uhr dürfen eigentlich keine Fehler passieren“: Produktion der "Tagesschau" im Regieraum von "ARD Aktuell" in Hamburg-Lokstedt.
Nein, das lief nicht gut gestern Abend. Es gibt solche Flauten im Nachrichtengeschäft. Aber gleich drei Parlamentswahlen als erste Meldung der „Tagesschau“ um 20 Uhr? Portugal, Tunesien und Kosovo? Zerknirschung am Tisch. „Die Nachrichtenlage war gräuslich“, sagt Qualitätsmanager Burkhard Nagel. Nicken. „Es war ein dröger Tag“, sagt auch Oliver Hähnel, Chef vom Dienst. Am Ende sahen trotzdem 10,76 Millionen Menschen zu. Es ist eben die „Tagesschau“. Sachlich wie eine Scheibe Knäckebrot. Aber so fest im deutschen Alltag verankert wie Aspirin und Leberwurst.
10.30 Uhr in Hamburg-Lokstedt. Planungskonferenz in der „ARD aktuell“-Redaktion. Rückblick und Ausblick. „Richtig fette Themen heute“, freut sich Hähnel. Die USA drohen mit Rückzug aus Syrien, Extinction Rebellion protestiert in Berlin. 32 Storys stehen auf seinem Zettel. Und dann meldet der „Spiegel“ auch noch, die Bundesregierung habe ihre Klimaziele gegenüber einem früheren Entwurf abgeschwächt. Das ARD-Hauptstadtstudio habe aber Zweifel. Typisch „Tagesschau“: Republikweite Erregung und Empörung – nur bei der ARD wiegt man abwägend die Schädel. Zu Recht, wie sich zeigen wird.
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„Die Marke ,Tagesschau' ist vor allem ein Gefühl": Redaktionskonferenz der "Tagesschau" bei "ARD Aktuell" in Hamburg mit Helge Fuhst (M.), Zweiter Chefredakteur.
Die „Tagesschau“. Das rituelle Abendläuten der Bundesrepublik. Ein Monolith der Biederkeit in einem Meer aus Aufregung, noch immer. Kein blitzendes und blinkendes Newsfeuerwerk, sondern seit 67 Jahren ein Apparat der Unterrichtung, zeitlos wie ein Bauhaus-Möbel. Die Bilder wiederholen sich: ministerielle Begängnisse, dunkle Limousinen, hastige Politikerstatements vor Mikrofontrauben, Vulkanausbrüche – undnundaswetterfürmorgenmontag. 69 Prozent der Themen sind politisch. Bei „RTL aktuell“ sind es 37 Prozent. Das süße Gift des Boulevard wird diese „Institution im besten Sinne“ (Angela Merkel) niemals kontaminieren. Aber im grellbunten Alarmismus der Gegenwart wirkt die älteste noch laufende Sendung Deutschlands fast schon wieder wie Avantgarde. Bei Instagram hat die alte Marke eine Million Follower.
Eine linksgrünversiffte Propagandamaschine?
Doch der Monolith steht unter Beschuss. Von rechts, wo man gern „öffentlich-rechtlich“ mit „staatlich“ verwechselt, wo man Pannen und falsche Bilder als absichtliche Manipulationen brandmarkt und ARD und ZDF gern privatisieren will. Von Mitbewerbern, die neidvoll auf den gebührenfinanzierten Luxus schielen. Von alten Konkurrenten wie RTL-Mitgründer Helmut Thoma, der einst zischte: „Diese Sendung könnte man auch auf Latein verlesen mit zwei brennenden Kerzen, und sie hätte immer noch die gleichen Ratings.“
Was ist die „Tagesschau“? Eine linksgrünversiffte Propagandamaschine? Eine schläfrige Nachrichtenbehörde? Ein Regierungskanal? Oder doch eine moderne Nachrichtendrehscheibe mit hohem Anspruch und Zuspruch?
„Die Marke Tagesschau ist vor allem ein Gefühl, und dem müssen wir treu bleiben“, sagt Helge Fuhst (35), Zweiter Chefredakteur von „ARD aktuell“. Seit wenigen Tagen erst ist er Vizechef in Hamburg-Lokstedt, wo 150 Redakteure die „Tagesschau“, die „Tagesthemen“, das „Nachtmagazin“, die Webseite tagesschau.de und den Nachrichtensender tagesschau24 füttern. „Zu dieser Marke gehört etwas Hanseatisch-Steifes. Von uns wird so viel Korrektheit erwartet wie von niemandem sonst.“
Ein junges Trio trägt künftig die Verantwortung
Mit ihrer statischen Erzählform ist die "Tagesschau" ein medialer Anachronismus: Hörfunk im Fernsehen, bildtechnisch so redundant, dass der Nachrichtensender NDR Info sie verlustfrei live im Radio überträgt. Das gibt’s ja fast nirgendwo auf der Welt mehr, dass in den nationalen Hauptnachrichten jemand einfach nur Zettel vorliest, höchstens noch im „koreanischen Fernsehen“, wie ausgerechnet ZDF-Anchor Claus Kleber vor ein paar Jahren mal lästerte. Der Lohn für die Konstanz aber sind stabile Quoten: Die Reichweite der "Tagesschau" um 20 Uhr lag im Jahr 2018 im Schnitt bei 9,63 Millionen Zuschauern. Von den Gesamtzuschauern entfielen rund 4,93 Millionen auf die Ausstrahlung in der ARD, der Rest sah in den Dritten Programmen und der Mediathek zu. Es ist ein dauerhafter Vertrauensbeweis Der Altersschnitt im Publikum freilich liegt bei 61 Jahren.
Ein deutlich jüngeres Trio trägt die Verantwortung, seit der bisherige Chefredakteur Kai Gniffke nach 16 Jahren im Amt zum neuen Intendanten des Südwestrundfunks gewählt wurde. Neuer Erster Chefredakteur ist nun Marcus Bornheim (45), der zwei Jahre lang Gniffkes Vize war. Und die frühere Buzzfeed-Chefin Juliane Leopold (36) verantwortet das digitale „Tagesschau“-Portfolio. „Herzlichen Glückwunsch!“ steht auf der Tafel in Fuhsts Büro, wo bisher Gniffke residierte. Ein alter VHS-Rekorder steht im Regal. Umdekorieren lohnt sich nicht mehr.
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„Kommunikation fließt auch architektonisch“: Projektleiter Patrick Uhe im neuen Newsroom von "Tagesschau" und "Tagesthemen" in Hamburg-Lokstedt.
Denn „ARD aktuell“ zieht um. Raus aus „Haus 18“, rein in „Haus 18A“, einen Neubau direkt daneben. Auf einem ehemaligen Parkplatz ist hier in vier Jahren Bauzeit ein zentraler Newsroom für TV und Digitales entstanden, der heute eröffnet wird. Der Bau mit 2000 Quadratmetern kostete 15,7 Millionen Euro, 15 Prozent mehr als geplant. Es ist ein dreistöckiges Gebäude mit einem zentralen Steuerdesk, den eine kreisförmige LED-Wand krönt, dazu weiße Wände, Kunst-Efeu, fließende Formen, eine Cafeteria – es ist ein „Mehrgenerationenhaus“, wie Projektleiter Patrick Uhe sagt. Alte und neue Welt verschmelzen. Das Ziel ist klar: kürzere Laufwege, bessere Kommunikation, Teamarbeit, Synergie. Ein Globus stand Pate als Symbol für die Formenphilosophie. „Kommunikation fließt auch architektonisch“, sagt Uhe. „Und unser Thema ist die Welt.“
Ein neuer Newsroom für 15,7 Millionen Euro
Im ersten Stock: Chefbüros mit Glaswänden, davor ein Balkon über den 72 Arbeitsplätzen unten. Nein, das sei nicht der „Chefredakteursverkündungsbalkon“, sagt Uhe. Aber man wolle den Newsroom auch mal als Kulisse für Moderationen nutzen. Arbeitsbeginn ist Mitte November, die Umzugskartons stehen bereit. In den alten Räumen von "ARD Aktuell" wird der NDR eine crossmediale Norddeutschlandredaktion eröffnen. Das „Tagesschau“-Studio freilich, gerade erst vor fünf Jahren neu eröffnet und 23,8 Millionen Euro teuer, bleibt dasselbe.
Natürlich ist der Neubau ein Symbol. „Wir müssen erklären, was wir tun“, sagt Fuhst. Der Umzug ist eine Zäsur. Die Redaktion will transparenter arbeiten, Fehler zugeben, offener sein. „In der ‚Tagesschau' um 20 Uhr dürfen eigentlich keine Fehler passieren“, sagt Fuhst. „Und wenn sie doch passieren, müssen wir offen und ehrlich damit umgehen.“ Das sind neue Töne für eine Institution, die sich ihrer selbst doch immer sehr sicher war. Und die im Vergleich zur Konkurrenz weiterhin luxuriös ausgestattet ist. Erst 2006 etwa wurde der kostenlose Fahrdienst für Moderatoren zwischen Wohnort und Studio abgeschafft. Etwas leicht Herablassendes umwehte die "Tagesschau" über Jahrzehnte. Zur neuen Demut trugen auch Pannen und Kommunikationsdesaster der jüngeren Zeit bei:
- Im Dezember 2016 brach ein Shitstorm über die Redaktion herein, weil sie weder den Mord an der 19-jährigen Studentin Maria in Freiburg noch die Festnahme eines tatverdächtigen 17-jährigen Asylsuchenden aus Afghanistan in der 20-Uhr-„Tagesschau“ vermeldete, obwohl sich das halbe Land über den Fall wund diskutierte. Der damalige Chefredakteur Kai Gniffke verteidigte die Entscheidung seiner Redaktion in einem Blogbeitrag: „Die ,Tagesschau' berichtet über gesellschaftlich, national und international relevante Ereignisse. Da zählt ein Mordfall nicht dazu“, schrieb er. Die Herkunft des mutmaßlichen Täters habe mit der Entscheidung nichts zu tun. Am Montagabend berichteten die „Tagesthemen“ dann doch noch über den Fall.
- In der Ukraine-Krise wies ein „ARD aktuell“-Bericht, der Fremdbilder verwendete, Schützen als angeblich pro-russisch aus. Die „Tagesthemen“ nahmen die Behauptung zurück. Auch manipulierte Bilder eines abstürzenden Hubschraubers, die von einer nicht ausreichend verifizierten Quelle stammten, beschädigten das Image.
- Als Notre Dame in Paris in Flammen aufging, unterbrach das Erste nicht das Programm, sondern zeigte eine Tierdoku – wie damals am 11. September 2001, als in der ARD noch die Elefanten über die Savanne zogen, obwohl in New York die Twin Towers brannten.
Das Ziel: Mehr erklären, weniger voraussetzen
Die „Tagesschau“ steht unter extremer Beobachtung. „Es gibt Leute, die messen die Balken unserer Grafiken zu Hause mit dem Lineal auf dem Fernsehbildschirm nach“, sagt Emanuel Ernst, Leiter der neuen „Erklär-Unit“. Mehr erklären, weniger voraussetzen – das ist das neue Credo. Gerade geht es in Ernsts Team um die Schraffurfarbe der nordsyrischen Provinz Idlib auf einer Grafik.
11.30 Uhr. Die Redaktion der "Tagsthemen" bespricht sich. Mit dabei: Moderatorin Pinar Atalay. Für die Sendung ist ein Autorenstück zum Thema "Hass im Netz gegen Politikerinnen" geplant. Atalay schlägt vor, mit einem Experten auch über die Frage zu sprechen, warum die Social-Media-Plattformen so wenig gegen das Phänomen unternehmen. Gesucht wird ein Interviewpartner. Namen schweben durch den Raum. Sascha Lobo? Oder doch besser eine Frau? Doch die Sendung läuft über. Am Ende entscheidet die Runde, doch nur den Beitrag zu machen. Kein Expertengespräch.
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Planungskonferenz der "Tagesthemen": Moderatorin Pinar Atalay.
Es ist ein täglicher Balanceakt: Präzisieren, ohne zu simplifizieren, vereinfachen, ohne zu verflachen. Immer wieder polemisieren auch Exkollegen über den Hang zum „Bombenjournalismus“ (Ex-„Tagesthemen“-Moderator Ulrich Wickert), schimpfen über dieses „groteske Sammelsurium aus fragmentarisierten Halbwahrheiten“ (Autor Walter van Rossum) oder über „die Kleinstaaterei der Anstalten“ (Ex-Korrespondent Christoph Maria Fröhder).
Die legendären Zickereien zwischen den ARD-Anstalten sind das täglich Brot von Chefplaner Kai Wessel. „Alle wollen in die ‚Tagesschau‘“, sagt er. „Und wir sind sehr konservativ. Wir wägen lieber dreimal ab.“ Der Anspruch: „Es soll halt stimmen.“ So einfach. So schwer. Schalten zu Korrespondenten organisieren, Experten bereithalten, technische "Laufwege" sichern - Wessels Team stellt quasi die "Menükarte" zusammen, aus dem die Sendungsteams dann die "Schau" gestalten.
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"Wir wägen lieber dreimal ab": "Tagesschau"-Chefplaner Kai Wessel.
„Staatsfunk“, „Propagandasender“, „Regierungsmarionetten“, „Zwangsgebühren“ – seit Jahren regnet es politische Kampfbegriffe auf ARD und ZDF herab. Beide kämpfen um ihre Legitimation. Aber was helfen Fakten gegen Gefühle? „Ich habe in meinen Jahren bei der ARD nicht eine einzige E-Mail oder einen Anruf mit Vorgaben oder Kritik aus dem Kanzleramt oder einer Staatskanzlei bekommen“, sagt Fuhst, bisher Chef des Tochtersenders Phoenix. „Früher gab‘s das. Ich bin froh, dass diese Zeit vorbei ist. Ich bin immer erstaunt, dass selbst normale, gebildete Menschen glauben, wir erhielten unsere Direktiven aus dem Kanzleramt.“
"Öffentlich-rechtlich" heißt nicht "staatlich"
Am rechten Rand steht die "Tagesschau" unter Beschönigungsverdacht. Der Kampfbegriff „Staatsfunk“ allerdings ist nicht nur wenig hilfreich – er ist historisch falsch. „Öffentlich-rechtlich“ – das klingt zwar nach Staat und Behörde. Historisch gesehen aber ging es genau um das Gegenteil. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als Gegenmodell zum gleichgeschalteten Rundfunk der Nazi-Zeit geschaffen. Statt verstaatlichter und zentralisierter Regierungsmedien sollten die Rundfunkanstalten nach dem Vorbild der BBC unabhängig vom Staat agieren. Kontrollorgane sollten Gremien sein, in denen Vertreter vieler „gesellschaftlich relevanter Gruppen“ sitzen, also auch Politiker. Immer wieder hat das Bundesverfassungsgericht in Urteilen klar gestellt: In Deutschland darf es keinen „Staatsfunk“ geben – sehr zum Ärger etwa von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Der träumte einst von einem privaten Deutschland-Fernsehen. Zuletzt erklärten die Karlsruher Verfassungsrichter 2014 den ZDF-Staatsvertrag in Teilen für verfassungswidrig, weil zu viele Vertreter von Bund, Ländern und Parteien in den Aufsichtsgremien saßen. Staatsferne ist also eine verfassungsrechtliche Pflicht. In der Praxis besteht zwar dringender Reformbedarf. Aber die "Tagesschau" ist kein Regierungsorgan.
Der Geburtsfehler liegt in der Krux, dass es die Länderparlamente sind, die über Auftrag und Ausgestaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks entscheiden. Daraus resultiert der Dauerverdacht, beide steckten unter einer Decke. Dazu tragen auch Regionalpolitiker bei, die Dritte Programme als „ihren Sender“ missverstehen und mit ihrer Macht kokettieren. In der Praxis hat die Politik durchaus Einfluss auf ARD und ZDF. Staatlich verordnete Inhalte aber gibt es nicht. Einzige Ausnahme: die Deutsche Welle, die als steuerfinanzierter deutscher Auslandssender „den Austausch der Kulturen und Völker fördern“ soll.
Ein schmaler Grat zwischen Selbstbewusstsein und Arroganz
13 Uhr. Nächste Planungsrunde. Das ARD-Hauptstadtstudio ist noch immer skeptisch bei der Klimameldung. Und wie soll man umgehen mit Extinction Rebellion? „Wir wissen ja noch nicht viel über das Sektenhafte“, sagt eine Kollegin, „bei denen gibt es Seminare, wo die Leute richtig eingenordet werden.“ – „Wie bei uns“, sagt einer. Gelächter.
Ein routiniertes Bemühen um Ausgleich und Abwägung bestimmt den Ton in allen Konferenzen. Die Ziele sind Relevanz und Verständlichkeit. Denn sie alle hier wissen: Vorformulierte Politstanzen und Wagenburgdenken wirken auf Zuschauer wie Kumpanei unter Mächtigen. Und es ist ein schmaler Grat zwischen gesundem Selbstbewusstsein und Arroganz. Vorgänger Gniffke hatte mit seiner offensiven Verteidigungshaltung gegen Kritiker („Wir sind das journalistische Stahlmantelgeschoss“) auch immer mal Öl ins Feuer gegossen.
14 Uhr. Die Runde der ARD-Chefredakteure verschafft sich per Videokonferenz einen Überblick über die Themen des Tages. Über das Thema des Kommentars in den „Tagesthemen“ wird demokratisch abgestimmt. Am Ende stehen sieben zu drei Stimmen für Syrien. Ute Brucker vom SWR bekommt den Zuschlag. Sie wird live sprechen. Pannenfrei.
Traditionell ist die Heiterkeit beim Publikum groß, sobald bei „Tagesschau“ oder "Tagesthemen" auch nur die kleinste Normabweichung auftritt. Das ist der strengen Form der Sendung geschuldet, die im Idealfall mit der störungsfreien Akkuratesse eines chinesischen Parteitags herunterschnurrt. In einem derart eisernen Korsett sieht jede ungewohnte Handbewegung gleich aus wie Breakdance. Ob absichtlich - wie damals, als Caren Miosga anlässlich des Todes von US-Schauspieler Robin Williams ("Club der toten Dichter") auf dem Sprechertisch stand. Oder unabsichtlich wie "Tagesschau"-Sprecherin Simone von Stosch, die einst zu Beginn einer Neun-Uhr-Ausgabe unterm Tisch verschwand.
Was suchte die Sprecherin unterm Tisch?
„Herzlich willkommen zu ,tagesschau24‘!“, sagte sie – und tauchte dann erst mal schrittweise ab wie ein ungeübter Pantomime beim Treppe-hinterm-Sofa-Trick, bis nur noch ihr Kopf zu sehen war. Dann zappelte sie im Stehen ein bisschen herum, bevor sie zur Meldung aus dem Weißen Haus kam. Dabei lächelte sie wie eine weißrussische Eiskunstläuferin. Wette verloren? Bewerbung für „Let‘s Dance“? Beine eingeschlafen? Oder saß Jan Hofer unterm Tisch und kitzelte ihr die Füße? Die Erklärung war simpel: Das Fußpedal, mit dem „Tagesschau“-Sprecher den Teleprompter bedienen, war einen Meter nach rechts gerutscht. Und so füßelte sich Frau von Stosch erst mal die Technik zurecht – und findet so Eingang in die altehrwürdige Galerie der schönsten „Tagesschau“-Pannen – von Susanne Holsts „Ifo-Geschlechtsklima-Index“ bis zu Dagmar Berghoffs „WC-Turnier“.
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Jede Panne oder Irritation erinnert an die Sterblichkeit der Sprecher. Deshalb war Jan Hofers Schwächeanfall jüngst bundesweit Tagesgespräch. Und deshalb wurde breit diskutiert, als er in der Sendung ein Selfie machte.
"Ich muss aber sagen: Ich verstehe auch manche Journalisten nicht", sagt Hofer. Er sitzt im Büro des Vize-Chefredakteurs. Sonnenbrille und Lederjacke hat er abgelegt. "Die haben das gar nicht begriffen. Die haben die Sendung gar nicht zu Ende geguckt, sondern nur gedacht: Was macht der da jetzt für einen Quatsch?" Hofer ist nicht sauer. Nur amüsiert. Seit 34 Jahren ist er Chefsprecher. Ihn umgibt die milde Ruhe eines Medienprofis, der alles erlebt hat. "Es gab ja durchaus eine inhaltliche Anbindung an die Sendung. Das ergab einen Sinn, und das war natürlich abgesprochen. Ich stelle mich doch da nicht hin und mache nur aus Jux ein Selfie!"
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"Ich stelle mich doch da nicht hin und mache nur aus Jux ein Selfie!": Jan Hofer, Chefsprecher der "Tagesschau".
Hofer staunt noch immer, welche Details Zuschauern wichtig sind. "Mir hat mal einer geschrieben, ich würde Schleichwerbung machen: Mein Kugelschreiber sei ein Montblanc. Daraufhin habe ich ihm den Kuli geschenkt. Das war ein ganz billiger Hotelkugelschreiber. Er hat nie wieder geantwortet."
Auch Hofer mahnt, dass die "Tagesschau" erst noch lernen müsse, die westliche Sicht auf die Welt abzustreifen. "Wir dürfen nie vergessen, dass wir noch nicht in jeder Hinsicht ein wiedervereintes vereintes Deutschland sind", sagt er. "Die gefühlte Grenze ist noch immer da. Sie zu überwinden ist eine extrem wichtige Aufgabe für uns. Wir haben inzwischen viele ostdeutsche Kollegen in der Redaktion, aber in früheren Jahren war zum Beispiel Frankfurt für uns immer ganz klar Frankfurt/West. Dass ein Ostdeutscher das aber automatisch mit Frankfurt/Oder verband, war uns hier lange nicht klar."
"Die Furcht um den Ruf der eigenen Heimat"
Für die heftige Kritik aus dem AfD-Lager an der vermeintlichen Voreingenommenheit der "Tagesschau" hat Hofer eine Erklärung: "Wir haben diverse Veranstaltungen gemacht, gerade in den Gegenden, in denen AfD und Pegida stark sind. Und da haben wir gespürt: Hier geht es nicht um Fakten, sondern um Gefühle. Dann sitzen dann 300 Leute, und du merkst: Denen geht es nicht so sehr um Inhalte, sondern um ein Gefühl. Es ist das Gefühl: ,Dadurch, dass ihr immer über das Negative berichtet, zerstört ihr unsere schöne Stadt.' Es geht nicht um Politik. Es geht um den Eindruck: ,Ihr macht mit eurer Berichterstattung immer nur alles nieder, was wir hier wieder aufgebaut haben.'" Ein Phänomen des Ostens? "Nein, das erleben Sie im Westen genauso. Es ist die Furcht um den Ruf der eigenen Heimat."
Karl-Heinz Köpcke war 28 Jahre bei der „Tagesschau“, Jo Brauner 30, Wilhelm Wieben 32, Werner Veigel 34. Hofer ist jetzt ebenfalls im 34. Jahr. Wie lange will er noch weitermachen? "Ich werde alle überleben", scherzt er. "Mein Vertrag läuft noch bis zum 31. Dezember 2020. Irgendwann muss auch mal Schluss sein. Ob das Ende 2020 sein wird oder ob ich noch ein paar Wochen oder Monate weitermache – das weiß ich noch nicht." Sein Rat an junge Sprecher: "Wer glaubt, dass er in diesem Job berühmt werden kann und das für sein Ego braucht, der ist vollkommen fehl am Platze."
18 Uhr. Die letzte Planungsrunde vor der „20 Uhr“-Ausgabe. „Wir haben noch mal minimal umgebaut“, sagt Hähnel. „Syrien jetzt auf der zwei, Klima auf eins.“ Die Skepsis des Hauptstadtstudios war berechtigt: Das Papier aus der Regierung, mit dem der „Spiegel“ am Morgen den aktuellen Gesetzentwurf verglichen hatte, war veraltet. Eine Luftnummer. Von 32 Themen am Morgen dieses Tages schaffen es am Ende sieben in die Sendung um 20 Uhr.
Der wichtigste Mann im Kampf um das Zuschauervertrauen ist Burkhard Nagel, 15 Jahre lang Chef vom Dienst. Seit 2017 wirkt er als Qualitätsmanager zwischen allen Stühlen, eine Art interner Moderator und Mahner – kein leichter Job bei dieser Krake mit 1000 Armen namens ARD. Er kritisiert den westlichen Blick der „Tagesschau“. „Redakteure, die wie wir in der Großstadt Hamburg leben, wissen nicht immer, was Ostdeutschland bewegt, welche Einstellungen aufgrund welcher Lebenserfahrungen entstanden sind“, sagt er. „Da haben wir in den vergangenen Jahren aber viel gelernt, auch wenn wir noch sensibler werden sollten.“ Nagel will jetzt Podiumsdiskussionen veranstalten, in denen Ost-Kollegen im Haus West-Kollegen aus dem eigenen Alltag berichten.
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Routiniertes Bemühen um Ausgleich und Abwägung: Regieraum der "Tagesschau" bei "ARD Aktuell" in Hamburg.
Was auffällt: Der Wille der Redaktion zur Selbstregulierung. Die Mühlen mögen langsam mahlen, aber sie mahlen. „Eine Lüge ist bereits dreimal um die Erde gelaufen, bevor sich die Wahrheit die Schuhe anzieht“, hat Mark Twain mal geschrieben. Heißt: Im Kampf um Aufmerksamkeit wird ein saftiges Gerücht eine trockene Tatsache immer schlagen. Umso größer ist die Verantwortung derer, deren Job es ist, Quellen zu prüfen, Fakten herauszuschälen und die Intentionen der Urheber zu entschlüsseln.
Die "Wahrheit" ist ein abstraktes Idealkonstrukt
Medien wird permanent vorgeworfen, nicht „die Wahrheit“ zu berichten. „Wahrheit“ aber ist ein abstraktes, fragiles Idealkonstrukt. Fakten sind schon rein etymologisch etwas „Gemachtes“ (vom Lateinischen „facere“). Absolute Objektivität ist ein ebenso hehres wie illusorisches Ziel, denn schon die Auswahl berichtenswerter Tatsachen ist ein subjektiver Vorgang. Mit dem Transport nüchterner Fakten gehen automatisch ihre Verknüpfung, Gewichtung und Bewertung einher. Individuelle Assoziationen fließen ein, Erfahrungen, Prägungen, Lesarten. Dass die Verpflichtung zur Wahrheitssuche jedoch ehrenhaft ist, dass „Wahrheit“ immer das Ziel sein muss, selbst wenn es unerreichbar bleibt – das ist gesellschaftlicher Konsens.
Fake News leben vom süßen Gift der Emotion. Sie sind politische Pornografie. Sie wirken wie ein Brandbeschleuniger für Ängste, Vorurteile, Selbstbestätigung. Das ist es, was sie so reizvoll und gefährlich zugleich macht.
Man kann der „Tagesschau“ viel vorwerfen: die manchmal enervierende Fixierung auf Auslandsthemen, die gelegentliche Eitelkeit, das Überangebot an Staatsbesuchen, den Westblick, den digitalen Expansionshunger, die mangelhaften Sparbemühungen des Mutterhauses ARD. Aber dass es überhaupt Redaktionen gibt, deren Kernkompetenz es ist, nicht die Nerven zu verlieren, nützt einer Gesellschaft am Ende mehr, als dass es schadet.
19.58 Uhr. Jan Hofer huscht ins Studio. Rotlicht. Gong. Dann erklingen die sechs Töne des Schlusstaktes der „Hammond Fantasie“, die der Berliner Komponist Hans Carste in den Vierzigerjahren in sowjetischer Kriegsgefangenschaft komponierte. „Guten Abend meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur ‚Tagesschau‘...“
Mit Fotos von Bertram Solcher