Mit Big Data gegen die nächste ESC-Pleite
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Levina wurde mit „Perfect Life“ nur Vorletzte beim ESC 2017 in Kiew. Deutschland hat zuletzt eine historische Pleitenserie hingelegt.
© Quelle: dpa
Hamburg. Eine populäre Definition von Wahnsinn ist, etwas beständig zu wiederholen – in dem Wissen, dass das Ergebnis dasselbe sein wird. Insofern ist es mindestens wahnsinnig vom Norddeutschen Rundfunk, beim Eurovision Song Contest (ESC) 2018 in Lissabon überhaupt ins Rennen zu gehen. Die Bilanz der letzten Jahre ist verheerend. Ann Sophie 2015: Letzte. Jamie-Lee 2016: Letzte. Levina 2017: Vorletzte. Deutschland beim ESC – das war zuletzt wie der dickliche Junge reicher Eltern auf dem Kindergeburtstag: mehr gelitten als geliebt. Aber was soll’s, er darf trotzdem kommen - er gibt halt mal ein Eis aus.
Deutschland zahlt – die anderen feiern. Dieses Klischee stimmt so zwar nicht (der ESC ist als Fernsehspektakel mit rund 400 000 Euro pro Jahr deutlich günstiger als vergleichbare Unterhaltungssendungen). Aber eine weitere Blamage wird sich kaum vermitteln lassen.
Das neue Motto: Viele Fliegen können nicht irren
Also wagen sie es wieder. Das neue Motto des zuständigen Norddeutschen Rundfunks (NDR): Viel hilft viel. Nach bitteren, teils selbst verschuldeten Pannen mit abspringenden Favoriten wie Andreas Kümmert und rechtslastigen Schnulzisten wie Xavier Naidoo will ARD-Unterhaltungschef Thomas Schreiber den deutschen Vorentscheid internationalisieren. Ein 100-köpfiges „Europa-Panel“, rekrutiert aus 10 000 musikinteressierten Teilnehmern in den sozialen Medien, soll über den deutschen Bewerber mitentscheiden.
Diese Musikexperten sollen helfen, die Bewerber zu sichten und ihre Eignung einzuschätzen. Dafür hat die Datenanalysefirma Firma Simon-Kucher & Partners einen speziellen Algorithmus entwickelt, der die Spreu vom Weizen trennt. So soll die Suche nach originellen, herausragenden, nicht nur den Mainstream bedienenden ESC-Kandidaten erleichtert werden. Die Daten stammen zum Teil auch von der Kölner Firma Digame, die seit mehr als zehn Jahren die europaweite Punktevergabe beim ESC-Finale abwickelt. Big Data gegen den Frust.
Gesucht: Magische Momente statt Pop-Schwarzbrot
Außerdem will Schreiber so sicherstellen, dass weder persönliche Vorlieben noch ein rein nationaler Musik-Geschmack die Wahl des Teilnehmers für Lissabon dominieren. Mit anderen Worten: Auf der Suche nach einem neuen ESC-Helden, der die geschundene Seele der deutschen ESC-Gemeinde wieder aufrichtet, vertraut der NDR diesmal auf die Mathematik.
Außerdem kommt nach dieser Vorsortierung eine bis zu 25-köpfige Expertenjury aus europäischen Musikspezialisten zum Einsatz. Darin sitzen Fachleute, die in den vergangenen Jahren in ihren jeweiligen Heimatländern Mitglieder der nationalen Jury waren. Dritter Mitentscheider ist dann das TV-Publikum. Die Hoffnung des NDR: Viele Fliegen können nicht irren.
Am Ende geht es – das weiß man auch beim NDR – beim europäischen Kindergeburtstag nicht um beeindruckende Statistiken und Analysetools, sondern um Gefühl, Zeitgeist und Momentum. Die Datenanalyse jedoch soll dabei helfen, denjenigen zu ermitteln, der am ehesten in der Lage ist, die Gunst der Stunde zu nutzen. Und in den 180 Sekunden auf der europäischen Bühne mal wieder Magie zu erzeugen statt Pop-Schwarzbrot. Die deutschen Bewerber landeten zuletzt vor allem deshalb ganz hinten, weil ihre Songs schlicht egal waren. Solide, sauber gesungen, geradeaus performt – aber ganz und gar ohne Zauber.
„Unser Ziel ist ein radikaler Neuanfang“
Ab sofort dürfen sich Musiker bewerben. Bis zum 6. November um 12 Uhr werden Vorschläge online entgegengenkommen (bewerberesc2018@digame.de). Aus allen Kandidaten wählt das Europa-Panel dann 20 aus, deren Gesang und Bühnenpräsenz im Studio verfeinert werden. Fünf landen schließlich im ARD-Vorentscheid – Sendetermin offen. Auch der Showort und die Produktionsfirma stehen noch nicht fest. Erst ganz zuletzt, wenn die fünf Teilnehmer ausgewählt sind, wird es um die Lieder gehen. Das bietet die Möglichkeit, den ESC-Hoffnungsträgern Titel auf den Leib zu schneidern, die exakt ihren Möglichkeiten und Eigenschaften entsprechen.
"Wir haben alles auf den Prüfstand gestellt und externen Rat eingeholt", sagt Schreiber. "Unser Ziel ist ein radikaler Neuanfang, bei dem nichts so bleiben soll, wie es in den letzten Jahren war." Mit der Experten-Armada von bis zu 125 Fachleuten beraubt sich der Sender seiner gängigsten Ausrede nach all den bitteren Niederlagen: Das deutsche Publikum habe halt gewählt, was ihm selbst gefällt – nicht was Europa mag. Die Wahrheit freilich ist so bitter wie banal: Mit einem mittelguten Song einer mittelguten Interpretin ist beim ESC kein Blumentopf zu gewinnen. Ob mit Mammutjury oder ohne.
Lenas fallen nicht vom Himmel
Tatsächlich ist die Entmachtung der Plattenfirmen, die stets ihre eigenen Interessen vertraten, ein richtiger Schritt. Alles ist besser, als wenn fünf bis sieben Herren im Hinterzimmer auskungeln, welcher ihrer Schützlinge ein paar PR-Tage ganz gut gebrauchen könnte. Dass im neuen Verfahren die Songauswahl nach ganz hinten rückt, ist für deutsche Verhältnisse ein radikaler Ansatz. Der freilich hat schon einmal funktioniert: Erst in der allerletzten Ausgabe der Raabschen Castingreihe „Unser Star für Oslo“ war Lena 2010 mit ihrem Siegertitel „Satellite“ zu hören. Ihr Sieg freilich beruhte auf Überraschung, Sympathie und Chuzpe. Nicht auf Mathematik. Lenas fallen nicht vom Himmel.
Das Finale des Eurovision Song Contests ist am Sonnabend, 12. Mai 2018, ab 21 Uhr live aus Lissabon im Ersten zu sehen. Um 20.15 Uhr startet der „Countdown von der Reeperbahn“ mit Barbara Schöneberger. Das Sendedatum des deutschen Vorentscheids steht noch nicht fest.
Von Imre Grimm