Skandal! Wie der „Tatort“ mit Sex und Klischees die Nation erregte

Lolitasex zur Hauptsendezeit: Nastassja Kinskis Auftritt als barbusige Fünfzehnjährige in der Folge „Reifezeugnis“ war einer der größten Aufreger in 50 Jahren „Tatort“.

Lolitasex zur Hauptsendezeit: Nastassja Kinskis Auftritt als barbusige Fünfzehnjährige in der Folge „Reifezeugnis“ war einer der größten Aufreger in 50 Jahren „Tatort“.

„Ich muss heute froh sein, dass ich überhaupt noch skandaltauglich bin“, hat Thomas Gottschalk mal gesagt. „Wenn du in eine Kategorie rutschst, wo die Leute sagen: ‚Da passiert sowieso nichts’ – dann wird’s gefährlich!“ Es ist das harte Los des Entertainers. Und was für den großen alten Mann der Volksbespaßung gilt, gilt für den „Tatort“ erst recht: Ohne Skandal bist du schnell egal. Ab und zu brauchst du Verstörung und Empörung.

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Dabei ist es im visuell überfütterten Deutschland gar nicht mehr so einfach, aus einem „Tatort“ noch das süße Gift des Skandals zu extrahieren. Lange her, dass CSU-Wüterich Franz Josef Strauß noch über die Berliner Folge „Tod im U-Bahnschacht“ von 1975 wetterte: „Das ist ein Banditenfilm aus Montevideo mit Bordelleinlage!“ Kaum zu fassen auch, dass ein „Tatort“ wie „Tote brauchen keine Wohnung“ von 1973 stolze 20 Jahre im Giftschrank des Bayerischen Rundfunks schlummerte, weil den Sittenwächtern die „brutale und menschenverachtende Darstellung“ eines Immobilienhais – gespielt von Walter Sedlmayr – unzumutbar schien. Da lächelt der heutige Zuschauer milde.

Die nackten Brüste der 15-jährigen Nastassja Kinski

Immer wieder ist es dem „Tatort“ gelungen, Boulevardschlagzeilen zu erzeugen – mal mit, mal ohne Absicht. Gewiss zählen die nackten Brüste der erst 15-jährigen Nastassja Kinski in Wolfgang Petersens Klassiker „Reifezeugnis“ von 1977 zu den meistdiskutierten – und meistwiederholten – Aufregern. Gerade erst hatten sich Millionen deutsche Spießbürger unter dem transparenten Deckmäntelchen der Aufklärung im Kino an den nackten Leibern der „Schulmädchenreports“ delektiert, da buhlte auch im Sonntagskrimi die Schülerin Sina Wolf (Kinski) oben ohne um die Gunst ihres Lehrers (Christian Quadflieg). Ohne seine textilarme „Bilitis“-Ästhetik wäre Petersens betulicher Lolita-Krimi zweifellos längst vergessen.

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Einer der ersten Aufreger des „Tatorts“: Filmszene aus der legendären „Tatort“-Folge „Reifezeugnis“ mit Nastassja Kinski als Schülerin Sina und Christian Quadflieg als ihr Lehrer Helmut Fichte.

Einer der ersten Aufreger des „Tatorts“: Filmszene aus der legendären „Tatort“-Folge „Reifezeugnis“ mit Nastassja Kinski als Schülerin Sina und Christian Quadflieg als ihr Lehrer Helmut Fichte.

Eine barbusige 15-Jährige würde zweifellos heute (wieder) einen Skandal auslösen. Manche „Tatort“-Erregung dagegen erscheint im Rückblick eher putzig. 1982 empörte die Folge „Wat Recht is, mutt Recht bliewen“ vom NDR den Rest der Republik: 80 Minuten auf Plattdeutsch mit Untertiteln! Eine Zumutung! Und die Mainzer Folge „Der gelbe Unterrock“ befand sich nach seiner Erstausstrahlung 1980 gar 35 Jahre im Tresor – erstens war er unterirdisch schlecht, zweitens verstörten die perversen Gewaltfantasien eines sexuell verwirrten Klamottenfetischisten die Zuschauer. Und deutsche Ermittler – das hatten bitte schön Beamte im Trenchcoat zu sein, biedere Ermittlungsbürger in karierten Sakkos, die artig ihrem Handwerk nachgingen.

„Zottel, du Idiot, hör auf mit der Scheiße!“

Damit war Schluss, als Horst Schimanski (Götz George) am 28. Juni 1981 kurz nach 20.15 Uhr „Scheiße“ sagte – genauer: „Zottel, du Idiot, hör auf mit der Scheiße!“ Der „Schimmi“ trug eine M-65-Feldjacke der US-Army und fluchte wie ein Kesselflicker. Von da an durfte ein Kommissar auch Brüche und Schründe aufweisen. Da wurde der „Tatort“ endgültig zu dem, was er bis heute ist: zum Spiegel der deutschen Befindlichkeiten, zum Brennglas, in dem sich Ängste und Sehnsüchte einer vom Verbrechen faszinierten Nation bündeln, die sich zur Selbstfindung auf dem Sofa einfindet, um beim betreuten Gruseln den Panikmuskel zu trainieren. Die deutsche Doppelhaushälfte als Zentrum des Verbrechens. Gut jagt Böse. Gut gewinnt. Böse verliert. Nun kann es wieder Montag werden. Und wehe, das Happy End fällt aus – wie 2012, als Mehmet Kurtulus alias Cenk Batu in seinem letzten Hamburger Fall im Kugelhagel der Kollegen starb. Oder im NDR-Krimi „Wegwerfmädchen“, ebenfalls 2012 – jener Räuberpistole um mordende Hooligans und hannöversche Cliquenwirtschaft, die offen zu enden schien – ohne jeden Hinweis, dass in der kommenden Woche der zweite Teil laufen werde.

Der hat „Scheiße“ gesagt! Götz George in seiner Rolle als „Tatort“-Kommissar Horst Schimanski am 1. März 1981 bei Dreharbeiten im Hafen von Duisburg. Er trägt die unverwechselbare M-65-Feldjacke der US-Army.

Der hat „Scheiße“ gesagt! Götz George in seiner Rolle als „Tatort“-Kommissar Horst Schimanski am 1. März 1981 bei Dreharbeiten im Hafen von Duisburg. Er trägt die unverwechselbare M-65-Feldjacke der US-Army.

„Tatort“ und „Polizeiruf“ sind am Ende Heimatfilme für ein Land, das sich so gern in seiner vermeintlichen Misere suhlt, das sich wohlig schaudernd seinen eigenen Abgründen nähert, dem Bösen in seiner Mitte – aber dann bitte doch an der Hand erfahrener Fachleute. Die „sexy Mischung“ (Maria Furtwängler) aus Tradition und Experimentierfreude ist einzigartig auf dem globalen Fernsehmarkt.

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Die Pfalz war sauer auf Ulrike Folkerts

Die Themen wurden komplexer – damit stiegen die Risiken, jemanden vor den Kopf zu stoßen. Mit „Tod im Häcksler“ von Nico Hofmann brachte Ulrike Folkerts 1991 die komplette Pfalz gegen sich auf: Zwölf Millionen Zuschauer erlebten die Bewohner eines pfälzischen Dorfes als rechtsradikale, geldgierige Mörderbande. Noch Jahre danach wurden Fahrzeuge des Senders SWF (heute SWR) in der Region mit Steinen beworfen. Der damalige Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) lud Folkerts zum Zwecke der Annäherung zum Wandern in seine Heimat, die schöne Pfalz, es gab Spätzle. 28 Jahre später kehrte Folkerts alias Lena Odenthal noch einmal in die Pfalz zurück – diesmal hatten die Ureinwohner keinen Grund zur Klage.

1998 bewegte die Kölner Folge „Manila“ das halbe Land, weil die Ermittler Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) sich auf die Spur der deutschen Kindersexmafia begaben, inspiriert vom realen Fall einer 13-Jährigen, die mit falschem Pass entführt und in Deutschland sexuell missbraucht und ausgebeutet worden war. Es folgte eine ganz Flut gut gemeinter Sozialdramen mit Weltverbesserungsabsicht, die beim Publikum freilich für eine schleichende Ermattung in Gewissensfragen sorgte.

Was macht der echte NSU-Terrorist auf der falschen Akte?

Gleich zwei Skandale auf einmal löste 2001 wiederum das Kölner Team mit der Folge „Bestien“ aus: Nicht nur, dass Ballauf am Ende die mordende Mutter laufen ließ – ein Frontalangriff auf den geruhsamen Nachtschlaf von Millionen Happy-End-Freunden. Auf einer BKA-Akte ist im Film außerdem für Sekundenbruchteile ein Fahndungsfoto zu sehen, das Jahre später bei Wiederholungen mächtig irritierte: Es war ein Foto des damals noch unbekannten, ganz realen NSU-Terroristen Uwe Mundlos. Eine Praktikantin hatte beim Basteln versehentlich ein reales Suchbild erwischt.

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Den größten politischen Skandal freilich erregte die NDR-Folge „Wem Ehre gebührt“ von 2007: Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) untersucht darin einen Inzestmord in einer türkisch-alevitischen Familie. Die alevitische Gemeinde muss sich seit Jahrhunderten gegen Inzestvorwürfe wehren – entsprechend groß war die Empörung. 20.000 Menschen gingen in Köln gegen den Film auf die Straße.

54 Tote in einem „Tatort“ – das ist Rekord

Sex? Taugt nur noch selten als Empörungstrigger, zuletzt im körpersaftreichen Pornofall „Hardcore“ aus München (2017) samt baumelnden Genitalien und seelenlosem Gerammel. Das Münsteraner Blödelpärchen Jan Josef Liefers und Axel Prahl verkleidet sich als Klischeetuntenpärchen? Das ist Volkstheaterslapstick auf Schenkelklopferniveau. Nein, das sicherste Mittel, heute noch eine Debatte loszustoßen, scheint der Bruch mit den Konventionen. „Im Schmerz geboren“ mit Ulrich Tukur etwa aus Hessen war 2014 ein zitatpralles, grandioses Stilfeuerwerk mit – je nach Lesart – bis zu 54 Toten.

Der meistdiskutierte Fall der vergangenen Monate war „Für immer und dich“ aus dem Schwarzwald. Nicht etwa wegen der Darstellung des sexuellen Missbrauchs einer jungen Frau. Sondern weil darin ihr süßer Hund Luno erschlagen wird.

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