Streamen und dabei erzittern: Das TV-Kabinett des Stephen King
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/VN6DW5XTCASX6JLMUHEKM322QA.jpg)
Viele Romane von Stephen King wurden verfilmt.
© Quelle: Tobias Hase/dpa
Monster haben Hunger, Vampire stillen ihren Durst, Geister wollen zurück in die Welt – das Übernatürliche hat eigentlich ganz natürliche, existenzielle Bedürfnisse, deren Befriedigung nur – gemäß seiner speziellen Natur – oftmals grausige Resultate zeitigt. Das größte Biest auf der Welt ist freilich der Mensch, der seinesgleichen aus Rache, Vergnügen, Niedertracht oder Wolllust Schaden zufügt. Das hat der amerikanische Schriftsteller Stephen King begriffen wie kein anderer. Und deshalb wirken seine Romane, deren Normalität meist von Schlieren des Anormalen durchzogen sind, viel beängstigender als die seiner Kollegen. Die Menschen in seinen Geschichten sind greifbar, begreifbar, lebendig.
In vielen der zahllosen King-Verfilmungen wurde mit dem Personal der Romane und Short Storys eher lieblos umgegangen. Einige Serien und Filme aber, die derzeit bei den Video-on-Demand-Anbietern zu sehen sind, sind überaus sehenswert. Wer die Corona-Auszeit nutzen will, um ein paar Ausflüge in die Twilight Zone zu wagen, der sollte zuvörderst “The Outsider” (bei Sky) wählen. In dieser wahrhaft bis ins Detail großartigen, stockfinsteren HBO-Serie wird der bislang untadelige Lehrer und Familienvater Terry Maitland (Jason Bateman), Coach der örtlichen Baseball-Jugend, von dem Polizisten Ralph Anderson (Ben Mendelsohn) vor Hunderten Zuschauern auf dem Sportplatz verhaftet. Zeugenaussagen und eine Genanalyse belasten ihn als Vergewaltiger und Mörder eines kleinen Jungen.
Idyllisch böse Kleinstadtverhältnisse
Doch Maitland hat ein Alibi. Am Abend des Mordes nahm er 70 Meilen entfernt an einer Tagung teil, es gibt sogar ein Video davon. Es scheint, als sei Maitland zur selben Stunde an zwei verschiedenen Orten gewesen. Was in der Welt Kings beileibe kein Ding der Unmöglichkeit ist.
Dabei geht es in “The Outsider” – wie oft in den Geschichten des Horrorkönigs aus dem US-Bundesstaat Maine – um die idyllischen, bösen Kleinstadtverhältnisse. Vom Verdacht bis zum Rufmord und zur Sippenächtung ist der Weg nur kurz. Mit den Kindern des als Kindsmörder abgestempelten Maitland will keiner mehr spielen, die Frau wird von der Gemeinde geschnitten und der mutmaßliche Täter selbst wird vom Bruder des Opfers auf dem Weg zum Gericht erschossen. Der falsche Verdacht setzt eine Kette von Tragödien in Gang, die den Polizisten Anderson dazu bringt, sich neuerlich auf die Suche nach der Wahrheit zu machen. Der schweigsame Anderson und die eigenwillige schwarze Detektivin Holly Gibney (Cynthia Erivo) stoßen auf einen Solitär von Monster, einen einsamen Killer vom Schlage des kinderfressenden Clownungeheuers Pennywise aus “Es” (beide Teile der “Es”-Neuverfilmung von Andy Muschietti werden bei Amazon gezeigt, Teil 1 bei Netflix, Teil 2 ab 15. Mai bei Sky).
“Mr. Mercedes” mit Brendan Gleeson
Auch ein gepflegtes Binge-Watching wert: “Castle Rock” (Amazon). In der zweiten Staffel der Serie, die King-Motive und -Figuren in dessen Gruselhauptstadt ansiedelt, treffen wir Annie Wilkes wieder, die psychotische Krankenschwester die in “Misery/Sie” einen Patienten fast zu Tode quälte. Lizzy Caplan macht eine gute Figur in der Rolle, die Kathy Bates 1991 den Oscar brachte. Annie ist hier jünger, hat eine Tochter (Elsie Fisher) bei sich und glaubt eine kurze Zeit lang, dass Castle Rock ihr “laughing place” werden könnte, der Ort, an dem alles gut wird. Doch bald schon kommen Vorurteile gegen Zugereiste auf, der hässliche amerikanische Rassismus erhebt sein Haupt, und die Toten erwachen. Wie soll eine Frau ihre kleine Familie zusammenhalten, wenn sie selbst auseinanderfällt? In der Rolle des Pop Merrill (bekannt aus Kings Novelle “Zeitraffer”) ist übrigens Tim Robbins zu sehen. Der spielte 1994 die Hauptrolle in Rob Reiners Gefängnisdrama “Die Verurteilten” – nach Ansicht vieler Fans die beste King-Verfilmung überhaupt (derzeit bei Sky).
Überragend ist auch Brendan Gleeson, der in den drei Staffeln von “Mr. Mercedes” (Amazon) den leicht verlotterten, sterbenskranken Ex-Cop Bill Hodges spielt, der seinen Blues auf einem alten Plattenspieler hört, im Stehen pinkelt, bei Wut Whiskey in sich hineinschüttet und seinen gelblichen Vollbart ins Kraut schießen lässt. Hodges ist geschieden, pensioniert, an ihm frisst außer dem Krebs ein übler, ungelöster Fall. Irgendwo da draußen höhnt der Mercedes-Mörder, ein Psychopath, der mit seinem Auto ein Massaker unter Arbeitslosen angerichtet hat. Kern der Mails und Videos an Hodges: “Fass mich endlich – du kriegst mich nie!”. In dem souverän inszenierten Thriller, der mählich den Boden der Tatsachen verlässt und sich in die Sphäre begibt, in der die Schatten leben, spielt Justine Lupe die Rolle der eigenwilligen Detektivin Holly Gibney (siehe “The Outsider”), die hier blond und eine Weiße ist.
Wiedersehen mit Danny Torrance aus “Shining”
Bei Netflix sind derzeit gleich drei Streifen nach King-Vorlagen zu sehen, die am deutschen Kino vorbeigingen. Mike Flanagan hat “Das Spiel” (2017) verfilmt – die Geschichte eines haarsträubend schiefgehenden Handschellensexabenteuers in einem einsamen Haus am See. Für Jessie Burlingame (Carla Gugino) wird das Entfesseln zum Wettlauf mit der Zeit gegen einen unheimlichen, ungebetenen Gast. Ebenfalls exklusiv bei Netflix: “1922” (2018), die Geschichte eines Farmers (Thomas Jane), der gemeinsam mit seinem Sohn die dem lustigen Stadtleben zugeneigte Ehefrau umbringt, um Grund und Boden zusammenzuhalten. Und der hinterher von der Schuld und Geistern verfolgt wird. Weniger gelungen ist “Im hohen Gras” (2019): Zwei Geschwister gehen den Hilfeschreien eines Kindes nach, das sich in einem riesigen Feld voller mannshohem Gras verirrt hat, nur um ernüchtert festzustellen, dass sich Raum und Zeit an diesem Ort anders verhalten. Man kommt hinein, aber nicht mehr hinaus.
Wie ins Heckenlabyrinth des Overlook-Hotels, in das uns Mike Flanagan in “Doctor Sleeps Erwachen” (2019, bei Amazon) zurückbringt. Hier treffen wir den erwachsen gewordenen Danny Torrance (Ewan McGregor) aus Stanley Kubricks “Shining” wieder. Der Geist seines gewalttätigen Vaters Jack sucht den trockenen Alkoholiker noch immer heim, während er ein Mädchen mit besonders ausgeprägter telepathisch-telekinetischer Gabe vor einer Bande vagabundierender “Shining”-Vampire zu schützen versucht und dazu in die Horrorherberge zurückkehrt, wo er einst traumatisiert wurde. Mike Flanagans Sequel hat gewiss nicht die Kubrickklasse unterhält aber über Gebühr gut.