„Contagion“-Macher blickt in die Klimazukunft

Welt im Abgrund – Nie war so viel Klimadrama wie in der Serie „Extrapolations“

Nicht täuschen lassen: Der Multimilliardär Nick Bilton pflanzt ein Bäumchen in der Welt, deren Vernichtung er maßgeblich mitbetreibt. Kit Harington ist in der Serie „Extrapolations“ entgegen seinem romantischen Jon-Snow-Image aus „Game of Thrones“ besetzt.

Nicht täuschen lassen: Der Multimilliardär Nick Bilton pflanzt ein Bäumchen in der Welt, deren Vernichtung er maßgeblich mitbetreibt. Kit Harington ist in der Serie „Extrapolations“ entgegen seinem romantischen Jon-Snow-Image aus „Game of Thrones“ besetzt.

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Unter einer Extrapolation versteht man die Weiterführung einer Zeitreihe über den letzten erfahrenen Wert hinaus. Ein Zug, der den Bahnhof von Würzburg verlässt, wird bei Beibehaltung des exakten Tempos zu einer bestimmbaren Zeit in Nürnberg einlaufen. Es lässt sich berechnen, an welchem Dorf er auf der Weiterfahrt nach München eine halbe Stunde später vorbeifährt. Die Wirklichkeit sieht jedoch oft anders aus. Nach Passagiererfahrung kommt der Zug zu spät oder gar nicht. Getriebeschaden, Kuh im Gleisbett, gestohlene Kabelage, Fahrer verschläft Fahrerwechsel. Es gibt Unsicherheiten en masse. Man kann die Uhr nicht nach der Bahn stellen.

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„Extrapolations“ heißt eine Science-fiction-Serie bei Apple TV+ (Start am 17. März), die aufzeigen will, wie viele Berechnungen der Zukunft – von den aussterbenden Tierarten über die Hitzetoten pro Jahr bis zum Kohlendioxidgehalt der Luft – aufgrund von unvorhersehbaren Faktoren riskant sind und aus dem Ruder laufen können. In acht Episoden geht es in die nahe Zukunft des Anthropozän, des Zeitalters durch Menschen verursachter Veränderungen – vom Jahr 2037 über die Jahre 2046, 2047, 2059 (zwei Folgen), 2066 und 2068 bis ins Jahr 2070.

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2070 – Jeder Schuss Sauerstoff muss bezahlt werden

Es beginnt 2037 mit den schon einigermaßen vertrauten Folgen der Klimaveränderungen – mit schier unbezwingbaren Waldbränden, radikaler Gletscherschmelze, Trinkwassermangel und einem stetig ansteigenden Meeresspiegel. „Es gibt keinen Wohlstand auf einem toten Planeten“, polemisiert eine zunehmend verzweifelte Klimaschutzbewegung.

Und es endet 2070 damit, dass man auf einem smogerfüllten Regenplaneten nach jeden Schuss Sauerstoff für die gestressten Lungen bezahlen muss. Viele Menschen leiden an „summer heart“, einer Organerkrankung gefolgt von Demenz – weil die Körper sich nicht an die rasant verlaufenden Veränderungen anpassen können.

Viele Stars haben sich der Klimaserie verschrieben

Die Serie lockt mit einer überwältigenden Starbesetzung. Um nur einige zu nennen: Sienna Miller spielt in der hochdramatischen Folge „2046″ die Meeresbiologin Rebecca Shearer, die mit dem letzten Buckelwalweibchen auf Erden kommuniziert und ihm die Bedeutung des menschlichen Wortes „Lüge“ erklären muss – eines Konzepts, das deren Spezies unbekannt ist. Meryl Streep ist Shearers sterbende Mutter Eve, die ihre Stimme der Walin leiht.

Bücher sind Trostorte in einem ruinierten Paradies: Eve (Meryl Streep) liest ihrem kranken Enkel den „Kleinen Prinz“ vor und leiht ihre Stimme der letzten Buckelwalin zur Kommunikation mit den Menschen.

Bücher sind Trostorte in einem ruinierten Paradies: Eve (Meryl Streep) liest ihrem kranken Enkel den „Kleinen Prinz“ vor und leiht ihre Stimme der letzten Buckelwalin zur Kommunikation mit den Menschen.

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Marion Cotillard und Forest Whitaker sind ein Paar, das über ein „Life Pause“ genanntes Biounternehmen sein irdisches Dasein bis zur Überwindung der Krise unterbrechen könnte. Edward Norton ist ein Geoingenieur, der seiner Kunst abgeschworen hat, weil er in ihr ein Glücksspiel mit dem Planeten Erde sieht. Indira Varma und Michael Gandolfini spielen seine Frau und seinen Sohn, die 2058 glauben, mit weltweit ausgebrachten Myriaden von Sonnenlicht zurückwerfenden Partikeln könne die Erhitzung der Erdoberfläche reversibel gemacht werden.

„Ich soll der Satan sein?“ – Glanzrolle für Kit Harington

Kit Harington schließlich, der 2011 als schwarzlockiger Jon Snow die Herzen der „Game of Thrones“-Fans gewann, spielt Nick Bilton, einen zu Serienbeginn jungen Multimilliardär, der sich als Wohltäter geriert, aber aus der Klimakrise nur Profit schlägt. Alles ist Kauf und Tausch. Der durstigen Welt gewährt er 2037 Zugang zu den von ihm aufgekauften Trinkwasserreservoirs. Und versichert in den Applaus des großartigen Augenblicks hinein, eine Erderwärmung über 2,3 Grad Celsius hinaus nicht tolerieren zu wollen (zur Erinnerung: das derzeit anvisierte Erderwärmungsmaximum beträgt 1,5 Grad über dem vorindustriellen Wert).

„Ich soll der Satan sein?“ fragt Bilton in einer späteren Folge. Da hat Botox längst geholfen, dem mephistophelischen Treiben Biltons ein adäquates Äußeres zu geben. By the way: 2,3 Grad sind natürlich nicht das Ende.

Serienmacher Burns sieht „Extrapolations“ als Science-fact

Der aus Minnesota stammende Filmemacher, Drehbuchautor und Produzent Scatt Z. Burns legt gern Finger in Wunden. In seinem zweiten Kinofilm „The Report“ (2019) mit Adam Driver und Annette Bening ging es um Intrigen und Vertuschung im Fall von CIA-Häftlingsfolter nach den Anschlägen des 11. September. Der 60-Jährige schrieb auch das Drehbuch zu Steven Soderberghs Pandemiethriller „Contagion“ (2011). Und bis auf ein paar Details geht der Film mit Matt Damon und Marion Cotillard geradezu als Corona-Prophetie durch. Auch „Extrapolations“ ist wissenschaftsbasiert, als „Science-fact“ bezeichnet Burns seine Serie.

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Anders als in der kürzlich gestarteten ZDF-Serie „Der Schwarm“, wo der Menschheitsuntergang durch einen Waffenstillstand mit einer zuvor nie in Erscheinung getretenen Tiefseespezies namens Yrr aufgehalten werden konnte, liegt in „Extrapolations“ alles an der Menschheit selbst. Mit einer geradezu grimmigen Konsequenz zeigt die Serie, wie die Wirtschaftsbosse noch bis 2070 auf Dollars aus sind und mit Statussymbolen protzen. Als böte ein feudales Anwesen, ein Leben im fortgesetzten Luxus, ihnen eine geschützte Bubble außerhalb der Welt am Abgrund.

Burns: „Der Klimawandel ist ein Wettlauf mit der Zeit“

Burns hat bewusst die nahe Zukunft gewählt. „Wenn ein Film erzählt, dass in 100 Jahren etwas Schlimmes passieren könnte, ist das für Sie vielleicht nicht sehr überzeugend“, sagte Burns in einem Interview mit dem „Hollywood Reporter“. „Wenn ein Film Ihnen aber mitteilt, dass am kommenden Freitag etwas Schlimmes passieren könnte, ist das etwas ganz anderes.“ Der Klimawandel sei „keine wissenschaftliche Vorlesung mehr – es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Es geht um unser Mitgefühl und es geht gegen unsere Gier“.

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Die Anklage lautet „versuchter Planetenmord“

Burns weiß freilich auch, dass eine Geschichte ohne jede Aussicht auf Besserung wie ein Hammer auf die Seele von Zuschauern wirkt, vor allem, wenn sie ihre erfahrbare Gegenwart als Ausgangspunkt erkennen, in der ein wildgewordener Imperialist mit seinem Angriffskrieg auf die Ukraine Ressourcen frisst, die für die Erdrettung dringend benötigt würden. Und in der höchst seltsame Hundertfachmilliardäre à la Bilton nichts Besseres mit ihrem Reichtum zu tun wissen, als den greisen Captain-Kirk-Darsteller William Shatner Richtung Weltraum zu schießen.

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Und so lässt Burns über seiner Dystopie etwas Hoffnung schimmern. 2070, das Jahr der letzten Episode, ist am Ende doch noch ein gutes Jahr … vielleicht. Ein internationaler Gerichtshof eröffnet einen Prozess. Die Anklage lautet auf versuchten Geozid – Planetenmord.

Robben mit großen Zähnen kommt man besser nicht dumm

Und Humor fließt auch ein, auch wenn die Botschaft nicht für Lacher korrumpiert wird. Einer der Handlanger Biltons, der auf Grönland ein Casino plant, zielt mit dem Finger auf ein Walrossweibchen, das plötzlich am Strand im Wasser vor ihm auftaucht: „Hätte ich eine Knarre, würde ich dich abschießen“, sagt er boshaft, als hinter ihm plötzlich ein Schnauben zu hören ist. Ein ausgewachsenes Walrossmännchen zeigt dem Manager, dass man Robben mit großen Zähnen besser nicht dumm kommt.

Fast könnte man bei dieser Szene glauben, Frank Schätzings Yrr hätten die Hand im Spiel gehabt.

„Extrapolations“, Serie, acht Episoden, von Scott Z. Burns, mit Kit Harington, Sienna Miller, Daveed Diggs, Edward Norton, Meryl Streep, Gemma Chan, Marion Cotillard, Diane Lane, Indira Varma, Tobey Maguire, Judd Hirsch, Tahar Rahim, Adarsh Gourav, Forest Whitaker (ab 17. März bei Apple TV+)

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