Zweite Staffel von “Castle Rock” - Wiedersehen mit Stephen Kings irrer Annie
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Zwei Unheilsbringer: Ace Merrill (Paul Sparks) gehört zu den Gangstern von Castle Rock. Mit der Krankenschwester Annie Wilkes (Lizzy Caplan) gerät er an eine Frau, die sich seinen Erpressungsversuchen blutigst zu widersetzen weiß.
© Quelle: picture alliance / Everett Colle
Der Bösewicht Ace Merrill, eigentlich heißt er John, ist einer von den besonders niederträchtigen Typen. Er hat etwas kojotenhaft Verschlagenes in seinem Grinsen, ist einer von denen, die Mitmenschen gern quälen und sie mit ihren „Deals“ in Abhängigkeit bringen. So hat er einige der kleinen Geschäftsleute des Städtchens Castle Rock im Schutzgeldgriff. Der krumme Hund, der in der einstweiligen Bleibe der Krankenschwester Annie und ihrer Tochter Joy aufgeschlagen ist, weiß, dass die beiden mit gefälschten Nummernschildern durch Amerika fahren, dass sie gar nicht Ingalls heißen und auch nicht aus Wisconsin kommen. Es gibt ein düsteres Geheimnis um die Zugereisten und düstere Geheimnisse bedeuten Macht und Geld.
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Aber gerade als Ace (Paul Sparks) das Wort „Deal“ in den Mund genommen hat, um seine neueste Erpressung einzuleiten, rammt ihm die zerbrechliche und zerrüttete Annie (Lizzy Caplan) einen Eislöffel so tief und kraftvoll in den Schlund, dass er daran ohne die Möglichkeit von „famous last words“ sein Leben verröchelt. Anschließend erweist sich Annie als kaltblütig im Spurenbeseitigen und Leichenverschleppen. Den penetranten Ace hatte man bis dahin für den Antipoden in der zweiten Staffel von „Castle Rock“ gehalten, jener Serie, in der neue Geschichten aus Stephen Kings Horrorhauptstadt erzählt werden. Aber wer sich mit Annie Wilkes aus Kalifornien anlegt, begibt sich in eine Gefahr, in der umzukommen nicht das Unwahrscheinlichste ist.
Annie Wilkes spiegelt Dichterängste vor dem Fan wider
Das wissen King-Fans und davon konnte der Schriftsteller Paul Sheldon aus Kings Roman „Sie“ (Originaltitel „Misery“, 1987) ein Lied singen. Kathy Bates spielte die ultracholerische Krankenschwester Annie, eine von Kings populärsten Gestalten, in Rob Reiners Verfilmung von 1990. Die Rolle der irrsinnig in eine literarische Figur verschossenen Frau, die deren Erfinder erst im Guten, dann zunehmend im blutigen Unguten zu überreden versucht, seine im Kindbett verstorbene Protagonistin Misery Chastain aus dem Friedhof der Fiktionen auferstehen zu lassen, brachte Bates 1991 den Oscar. Die Story war einer von Stephen Kings Albträumen: Die Angst des Dichters vor dem unbekannten, unberechenbaren Fan, dem Fanatiker.
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Lizzy Caplan macht sich mit ihrem stocksteifen Trippelschritt gut in Bates‘ großen Fußstapfen. In dem fiktiven Paralleluniversum der in unserer Gegenwart spielenden Serie ist Annie freilich paradoxerweise 20 Jahre jünger als vor 33 Jahren im Roman. Die junge Annie trennt die Welt strikt in Schwarz und Weiß, in Gut und Böse und sie weiß dabei durchaus Bescheid über ihre längst aufziehende geistige Umnachtung. „Mit mir ist etwas nicht in Ordnung“, gesteht sie mehrfach in den sechs (von zehn) zur Vorabsichtung überlassenen Folgen. Und so sucht sie sich auf ihrer jahrelangen Odyssee immer wieder Arbeit in Krankenhäusern, wo sie sich die Psychopharmaka zusammenstiehlt, mit denen sie den Schein des Normalen wahren und an den Pforten des Wahnsinns vorbeischrammen kann. Parallel zieht sie ihre Tochter Joy (Elsie Fisher) groß, beschwört notorisch die Mutter-Tochter-Gemeinschaft, macht der inzwischen flügge werdenden Joy Angst vor der üblen Welt.
Castle Rock ist nicht Annies ersehnter „laughing place“
Ein paar Tage glaubt sie, dass Castle Rock beider Heimat werden könnte, ihr lebenslang ersehnter „laughing place“, an dem endlich alles gut wird. Dann aber taucht Ace auf, und dann schiebt Annie ihren Mord auch noch den somalischen Einwanderern in der Nachbarstadt Jerusalem’s Lot in die Schuhe. Und schon erhebt auch der amerikanische Rassismus sein hässliches Haupt.
Und selbstverständlich der Horror. In vergessenen Bergbauschächten wimmeln unheimliche Käferschwärme und die Gestorbenen (zweiter Auftritt: Ace) stehen wieder auf. Dass die Wiedergänger nicht Ausgeburten der überspannten Fantasie Annies sind, sondern echte übernatürliche Phänomene, steht zumindest für den Zuschauer schnell fest. Annies Zweifel an ihrem Verstand indes werden tiefer: Wie soll sie nur ihre kleine Familie zusammenhalten, wenn sie selbst auseinanderfällt? Wie soll sie ihre sacht rebellierende Tochter vor der Welt beschützen, wenn ihr Tote nach dem Leben trachten?
Viele Gimmicks für Freunde des Stephen-King-Kosmos
Der zweite Ausflug nach Castle Rock lohnt mehr als der erste. Plot wie Charaktere sind sorgfältig gestaltet, die Dialoge sind aus dem Leben und während Countrysongs und Opernarien das Geschehen in der Normalität verorten, verweist der drippelnde, knisternde, raschelnde Geräuschscore auf die Tore zur Twilight Zone. Zur Hälfte der Serie gibt es einen grandiosen Twist, der Annies Kindheit ergründet und alles Geschehene in neuem Licht erscheinen lässt.
King-Maniacs erfreuen sich zudem zahlreicher Anspielungen und Verweise auf das Gesamtwerk ihres Lieblingsschriftstellers. Gespielt wird mit Motiven, die von „Carrie“ über „Salem’s Lot“ bis zu „Friedhof der Kuscheltiere“ reichen. Und die vampirischen Monster sind auch ein wenig verwandt mit den Aliens aus dem Sci-Fi-Horrorroman „Die Körperfresser kommen“, mit dem Kings Kollege Jack Finney das Nachkriegsamerika 1954 vor kommunistischer Infiltration warnte.
Tim Robbins meldet sich in Castle Rock zurück
Auch über die Rückkehr von Pop Merrill freut man sich. Nicht so sehr, weil diese dubiose Krämerseele, die in Kings Novelle „Zeitraffer“ (1990) auf so grausige Weise durch eine magische Polaroidkamera starb, hier ein gemütlicher, großherziger älterer Herr ist, der neben seinen Neffen Ace und Chris auch zwei somalische Waisenkinder großgezogen hat. Sondern weil Tim Robbins ihn verkörpert, der schon die Hauptrolle in der wohl besten Stephen-King-Verfilmung spielte, Frank Darabonts Gefängnisdrama „Die Verurteilten“. Sobald Robbins zum ersten Mal im Bild erscheint, nimmt man ihn als Omen für die zweite Staffel: Alles wird gut, was bei King freilich nur heißt, dass alles herrlich schrecklich wird.
„Castle Rock, Staffel 2“ ist ab 13. Februar beim Starzplay Premium Streaming Service über Amazon Prime Video streambar.