Bandengewalt in Haiti nimmt immer mehr zu: Hilfsgruppen werden behindert
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Haiti ist auf die Hilfe angewiesen. (Symbolbild)
© Quelle: Robin Loznak/ZUMA Press Wire/dpa
Port-au-Prince. Martin Jean Junior hat sich mit dem Verkauf von Altmetall etwas Geld zum Leben verdient. Dann ging sein Haus im Juni im Zuge von Kämpfen zwischen der Polizei und Gangs in Flammen auf. „Seitdem bin ich auf der Straße“, sagt der 50-Jährige, während er auf dem harten Fußboden einer Schule in Port-au-Prince liegt, die vorübergehend in eine Notunterkunft umgewandelt worden ist. Der 50-Jährige braucht dringend ein festes Dach über dem Kopf - und nicht nur er.
In Haiti nimmt die Bandengewalt immer mehr zu, verstärkt Hunger und Armut im Land und erschwert die Arbeit von Hilfsorganisationen, die doch genau diese Probleme zu bekämpfen versuchen. Nur wenige Helfer sind bereit, über die Behinderungen zu sprechen, vielleicht weil sie es vermeiden wollen, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - vor dem Hintergrund der Entführung von 17 christlichen Missionaren und Familienangehörigen im Oktober, von denen zwölf immer noch festgehalten werden. Aber einige bestätigten, dass sie Mitarbeiter aus dem Land geschickt haben und zumindest vorläufig gezwungen sind, ihre Arbeit zurückzuschrauben.
Entführungen durch Gangs und Schießereien
Entführungen durch Gangs und Schießereien hindern Hilfsgruppen daran, Teile der Hauptstadt Port-au-Prince und andere Gebiete zu betreten, wo sie vorher Essen, Wasser und andere Grundbedarfsartikel verteilt haben. Zusätzlich wird ihr Einsatz durch den schweren Benzinmangel im Land erschwert. „Es wird einfach immer schlimmer, auf jede mögliche Weise“, sagt Margarett Lubin, Direktorin für Haiti bei der US-Hilfsorganisation Core. „Man sieht, wie sich die Lage von Tag zu Tag verschlechtert.“ Hilfsgruppen befänden sich jetzt in einem „Überlebensmodus“.
Dabei sind nur wenige andere Regionen auf der Erde so stark auf Helfer angewiesen wie Haiti, das oft als „die Republik von NGOs (Nichtregierungsorganisationen)“ bezeichnet wird. Milliarden Dollar an Hilfen sind über Hunderte - nach manchen Schätzungen sogar mehrere Tausend - Organisationen in das Land geflossen, während die Regierung ständig schwächer und weniger effektiv geworden ist.
Haitis Staatspräsident Jovenel Moïse ermordet
Im Juli wurde Haitis Staatspräsident Jovenel Moïse ermordet, kurz danach übernahm Premierminister Ariel Henry die Führung des Landes. Aber von politischer Stabilität keine Spur: Fast alle Sitze im Parlament sind vakant, und es gibt noch kein festes Datum für - immer wieder verzögerte - Neuwahlen, wenn auch Henry jetzt vom Frühjahr nächsten Jahres spricht. Weniger als ein Dutzend gewählte Amtsträger repräsentieren derzeit ein Land mit mehr als elf Millionen Einwohnern.
Und auf den Straßen regieren die Banden. Bislang hat die nationale Polizei in diesem Jahr mehr als 460 Entführungen vermeldet - der UN-Vertretung in Haiti zufolge mehr als doppelt so viele wie 2020. Nach ihren Worten leben Haitianer „in einer Hölle unter dem Joch bewaffneter Banden. Vergewaltigungen, Morde, Diebstahl, bewaffnete Angriffe, Entführungen werden weiterhin jeden Tag begangen“. Menschen in benachteiligten, an den Rand gedrückten Gegenden von Port-au-Prince und darüber hinaus seien sich in ihrer Verteidigung oft selbst überlassen.
Große Organisationen haben alternative Wege gefunden
Große Organisationen wie das UN-Welternährungsprogramm haben alternative Wege gefunden, Menschen zu helfen, transportieren etwa Güter mit Lastkähnen anstatt leichter angreifbaren Lastwagen von der Hauptstadt in die südlichen Regionen des Landes. Aber kleineren Gruppen ist so etwas oft nicht möglich.
Und dabei werden die Hilferufe immer lauter. Ein Erdbeben der Stärke 7,2 hat Mitte August 2200 Menschen getötet und Zehntausende Häuser zerstört. Das Land muss außerdem die kürzliche Ankunft von 12 000 Haitianern bewältigen, die aus dem Ausland - zumeist den USA - abgeschoben worden waren. Darüber hinaus sind 20 000 Menschen vor der Bandengewalt aus ihren Häusern geflohen, viele von ihnen leben dem Kinderhilfswerk Unicef zufolge in improvisierten Notunterkünften unter extrem unhygienischen Bedingungen - und das in Zeiten der Corona-Pandemie.
Könnte für manche bald noch schlimmer werden
Die UN-Einrichtung schätzt, dass sie im nächsten Jahr an die 100 Millionen Dollar (88,5 Millionen Euro) benötigen wird, um einer Million Menschen in Haiti zu helfen.
Und es könnte für manche sogar bald noch schlimmer werden. Ein prominenter Bandenführer hat kürzlich Haitianer aufgerufen, die Gemeinde Martissant zu meiden, da sich rivalisierende Gangs dort demnächst bekämpfen würden. „Sogar die Hunde und die Ratten werden nicht verschont werden. Alles, was sich bewegt, Lastwagen, Motorräder, Leute, wird als Verbündeter von Ti-Bois betrachtet werden“, sagte der als „Izo“ bekannte Bandenchef in einem Video mit Bezug auf eine andere Gang.
Meisten Leute halten sich bereits von der Gegend fern
Die meisten Leute halten sich bereits von der Gegend fern, aus Furcht, entführt, beschossen oder beraubt zu werden. Zu den jüngsten Opfern, die im Kreuzfeuer der Bandenkämpfe getötet wurden, zählen ein siebenjähriges Mädchen und mindestens fünf Passagiere eines Busses. Die Gewalt hat die Gruppe Ärzte ohne Grenzen im August gezwungen, eine Nothilfe-Klinik zu schließen, die der Gemeinde seit 15 Jahren gedient hatte.
Liman Pierre, ein Mechaniker, schildert, dass er kürzlich auf dem Weg zur Arbeit Martissant durchqueren musste und dabei vier Tote auf der Straße gesehen habe. „Die Kriminellen töten ungestraft und überlassen die Toten den Hunden“, sagt der 40-Jährige. „Diejenigen, die nicht von Hunden gefressen werden, werden in Brand gesteckt, schlicht und einfach. Das kann doch nicht sein.“ Pierre schläft jetzt vorläufig auf den Straßen von Port-au-Prince - damit er auf dem Heimweg von der Arbeit nicht mehr durch Martissant muss.
RND/AP