Bis dass die Kündigung uns scheidet
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Eine symbiotische Verbindung irgendwo zwischen Schicksalsgemeinschaft und Wahlverwandtschaft, zwischen Tonerkartusche und Kaffeepause: Warum “Büroehen“ uns – und der Arbeit – gut tun.
© Quelle: Fotolia
Hannover. Ein Mensch, der dich wirklich kennt. Der dich weinen und lachen, hadern, tanzen, fluchen und schuften gesehen hat. Der dir Erfolge nicht neidet und Misserfolge nicht gönnt. Der dir hilft, mit der Kälte da draußen zurechtzukommen, mit den Verrückten, den Konkurrenten, den Neidern und Spinnern. Ein Verbündeter gegen den täglichen Wahnsinn.
Millionen Menschen haben einen solchen Partner. Aber sie teilen nicht Tisch und Bett. Sie tragen keine Ringe am Finger. Sie haben keine gemeinsamen Kinder und machen nicht zusammen Urlaub. Sie sind nicht Lebens- und nicht Ehepartner. Sie sehen sich fast ausschließlich am Arbeitsplatz. Aber sie sind mehr als Kollegen. Sie teilen eine Beziehung, die einer Ehe ähnelt und doch ganz anders ist: zwar exklusiv, vertrauensvoll und eng, aber platonisch und nur in Teilzeit. Zwar basierend auf gemeinsamen Überzeugungen und Humor, aber ohne Sex. Eine Büroehe.
Umgerechnet acht Jahre ihres Lebens am Stück verbringen Menschen am Arbeitsplatz. Das klingt übersichtlich, aber das sind 3000 Tage netto. Zweiundsiebzigtausend Stunden. Mit unseren eigenen Kindern spielen wir im Schnitt nur 270 Tage im Leben. Wir verbringen viel mehr wache Zeit mit unseren Kollegen als mit unserer Familie. Gemeinsame Zeit verstärkt in der Regel das, was in Ansätzen schon da ist: Abneigung oder Zuneigung. Entweder es knallt oder es funkt.
Blinde Pässe im Büro
Nähe schafft Vertrautheit. Dabei entstehen Beziehungen. Klassische Liebesbande, geheime Liaisons, wilde Affären, tiefe Freundschaften. Gelegenheit macht Liebe. Oder es kommt zu dieser Sonderform, die im englischen Sprachraum “Work Spouse“ heißt. Eine symbiotische Verbindung zwischen zwei Kollegen unterschiedlichen Geschlechts irgendwo zwischen Schicksalsgemeinschaft, Wahlverwandtschaft und platonischer Ehekopie. Ein beziehungsähnliches Konstrukt zwischen Tonerkartusche und Cappuccino.
Wie bei Lisa und Hannes zum Beispiel. Beide in festen Händen, beide mit eigenen Kindern. Seit mehr als 20 Jahren arbeiten beide in derselben Firma. “Sie ist eine der wichtigsten Frauen in meinem Leben“, sagt Hannes. “Ich liebe ihren pragmatischen Optimismus und ihre Uneigennützigkeit. Aber es ist völlig klar, dass wir niemals eine klassische Beziehung haben werden.“
Beide sehen sich viele Stunden täglich, an fünf bis sechs Tagen pro Woche, sie kennen sich in- und auswendig, haben schwere Krisen und große Triumphe gemeinsam erlebt und mögen sich trotzdem noch – eine solide Basis für eine stabile, platonische Beziehung. Ein kurzer Blick im Meeting genügt – und sie müssen gar nicht mehr über irgendeinen Blödsinn mit den Augen rollen. Ein putziges Wort reicht – und eine Assoziationslawine stürzt ins Tal. Blinde Pässe im Büro. Bonnie und Clyde, nur ohne Tote. Gemeinsam einsam am Benjamini.
Partnerschaft minus statt Freundschaft plus
Fast ein Drittel aller Berufstätigen gab in einer Umfrage an, einen “Office Husband“ oder eine “Office Wife“ zu haben. CNN bezeichnet das Phänomen als “Beziehung mit der Intimität einer Ehe, nur ohne romantische Gefühle und Verpflichtungen“. Eben nicht “Freundschaft plus“ (also mit unverbindlichem Sex), sondern “Partnerschaft minus“. Der engste Kollege dient als emotionaler Anker, als Unterstützer in der nicht selten unbequemen, von Leistungsansprüchen und Fremdbestimmung beherrschten Umgebung der Firma.
Das “Work Spouse“-Phänomen hat Einzug in die Popkultur gehalten: In der fünften Staffel der Sitcom “King of Queens“ etwa backt Anwaltsgehilfin Carrie Heffernan (Leah Remini) Kekse für ihren “Arbeitsehemann“ Curt. Die Vertrautheit, das Kichern, die Insiderwitze zwischen den beiden befeuern die Eifersucht ihres realen Ehemanns Doug (Kevin James), bis er fordert: “Ich will da auch mitmachen! Bei diesem Dings, das ihr da habt!“. Auch Fraiser Crane und Roz Doyle aus “Frasier“ sind klassische Büropartner (“Lass mich nicht alleine, Roz! Ich kenne die hier alle gar nicht!“).
Lisa und Hannes kennen sich durch eine gemeinsame Freundin seit Schulzeiten. Sie verloren sich im Studium aus den Augen. Sie trafen sich in der Firma wieder, als man noch Schallplatten kaufte. Sie haben bei Regen, Schnee, Hitze, Sonne, Hagel und Sturm, bei Tag und bei Nacht, krank und gesund, heiter und bewölkt, mutig und ängstlich, verunsichert und zuversichtlich, fröhlich und traurig gemeinsam im Büro gesessen. Und das soll auch so bleiben, findet Lisa – “bis dass die Kündigung uns scheidet“.
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Klassische Büroehe: Roz Doyle (Peri Gilpin, von rechts) und Frasier Crane (Kelsey Grammer) in der TV-Serie “Frasier“ (hier mit Tom McGowan als Kenny Daly).
© Quelle: NBCUniversal
“Diese spezielle Arbeitsbeziehung ist so besonders, dass manche Menschen länger in einer Firma bleiben, als sie eigentlich vorhatten, um ihre ,Work Spouses’ nicht zu verlassen“, sagt die Psychologin Karla Bergen vom St.-Mary-College in Omaha im US-Bundesstaat Nebraska dem Wissenschaftsmagazin “Inverse“. “Wenn ihr ,Work Spouse’ dann die Firma wechselt, suchen sie sich auch neue Jobs.“ Im Unterschied zu anderen Kollegenbeziehungen besteht beim “Work Spouse“ die Gewissheit, dass Aufrichtigkeit, Lästereien, Schwächen und offen ausgesprochene innere Konflikte keine Auswirkungen auf den sozialen Status haben.
Für Soziologen basiert eine Büroehe ganz ähnlich wie eine reale auf “Offenheit, gegenseitiger Unterstützung, Vertrauen, Ehrlichkeit, Loyalität und Respekt“. Sie erklären das Phänomen auch mit der modernen Arbeitswelt: Teams arbeiten heute länger, vernetzter und weniger isoliert als früher. 60 Prozent aller deutschen Arbeitnehmer sind zumindest gelegentlich auch nachts oder am Wochenende im Einsatz. Da steigt das Bedürfnis nach einem Seelenverwandten, der Stress auszugleichen und Ärger abzufedern hilft.
“Lange sahen wir Kollegen vor allem als Konkurrenten“, sagte die britische Arbeitspsychologin Joanna Butler dem “Daily Telegraph“. “Inzwischen erkennen viele Firmen den Wert des Netzwerkens und Zusammenarbeitens.“ Die veränderte Firmenkultur fördert enge Partnerschaften. Umgekehrt steigt auch in Firmen mit toxischem, scharfem Konkurrenzdenken das Bedürfnis nach einem vertrauenswürdigen Gesprächspartner, einer Schulter zum Ausheulen.
Emotionale Sicherheit am Arbeitsplatz
Seit den Dreißigerjahren, seit Erscheinen des Romans “The Office Wife“ von Faith Baldwin, wird der Ausdruck Büroehefrau in der Arbeitswelt verwendet. Doch seine Bedeutung hat sich gewandelt: In patriarchalischeren Zeiten war mit Büroehefrau die Sekretärin gemeint, die dem Chef – wie eine Ehefrau damals dem Göttergatten – Erledigungen abnahm, Geschenke für dessen Kinder besorgte, seine Gewohnheiten und Präferenzen kannte. Heute ist es im besten Fall eine Beziehung auf Augenhöhe, ohne Machtgefälle, ohne den Beiklang von Machoismus.
Und selbst der Arbeitgeber hat etwas davon: Eine Studie der Universität von North Dakota zeigt, dass intergeschlechtliche Zweierteams mit wechselseitig tiefer Loyalität produktiver arbeiten als rein männliche oder rein weibliche Bündnisse. Oder anders gesagt: Die erhöhte Zufriedenheit durch emotionale Sicherheit am Arbeitsplatz verbessert nicht nur die Laune, sondern auch die Arbeit selbst.
Was, wenn Eifersucht ins Spiel kommt?
Und was, wenn dann doch die Liebe dazwischenfunkt? Wenn aus der platonischen Anziehung mehr wird? Wenn Eifersucht ins Spiel kommt? Bis zu 30 Prozent aller Beziehungen entstehen zwischen Schreibtischen, in Kantinen und Konferenzräumen. Franz Beckenbauer etwa ehelichte gleich zwei seiner Sekretärinnen. Auch in der “Simpsons“-Folge “Homers letzte Versuchung“ droht sich Homer Simpson unsterblich in die hübsche neue Kollegin Mindy zu verlieben – und sucht verzweifelt nach Gegenargumenten, weil er um seine Ehe fürchtet. Der finstere Boss Montgomery Burns beobachtet die tapsigen Flirts der beiden mit diebischer Freude (“Das ist genau das Teamwork, das wir brauchen!“) – und schickt sie gemeinsam auf eine Messe. In Zimmer 61 kommt es fast zum Äußersten. Bis sich Homer auf die Qualitäten seiner Marge zurückbesinnt.
Das ist für Psychologen die wichtigste Voraussetzung dafür, dass Arbeitsbeziehungen niemals reale gefährden: Teile mit deinem Büropartner keine Geheimnisse, die du mit dem realen Partner nicht auch besprechen würdest. Wenn das gelingt, kann eine Büroehe die Qualität der echten Ehe sogar verbessern. Denn ein gesundes soziales Umfeld begünstigt die Lebensqualität insgesamt. Wer ein nettes Arbeitsumfeld hat, ist auch netter zu seiner Familie. Auch da lautet das Zauberwort: Vertrauen. Es ist – wie der amerikanische Kolumnist Henry Louis Mencken einmal schrieb – “das Gefühl, einem Menschen sogar dann glauben zu können, wenn man weiß, dass man an seiner Stelle lügen würde“.
Von Imre Grimm