Die kritische Masse
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Das Web 2.0, das “Mitmachinternet“ der sozialen Medien, ist an einem kritischen Punkt angelangt. Wie kann eine digitale Welt aussehen, die tatsächlich vernetzt statt aufhetzt?
© Quelle: iStock
Hannover. Facebook ist das Internet. Das Internet ist Facebook. Das ist der Status Quo. Der Datenskandal um 87 Millionen betrogene Nutzer, die theatralische Zerknirschtheit von Mark Zuckerberg, seine halbherzigen Reformschwüre, die erschreckend naiven Fragen der Politik, die Steuerdrohungen aus Europa – all das, so steht zu befürchten, wird an der monopolistischen Marktmacht des blauen Kolosses nicht kratzen.
Facebook ist zu groß, um zu implodieren. Und seine zwei Milliarden Nutzer sind zu süchtig, um ihren Dealer kurzfristig in Gefahr zu bringen. Eine Welt ohne Facebook? Nur eine nostalgische Träumerei. Eine ferne Erinnerung an vermeintlich friedlichere, leisere, unaufgeregtere Zeiten ohne Hassposts, Katzenquatsch, Betrüger-Bots und Trolle.
Aber natürlich kann auch Zuckerbergs Überwachungsimperium ins Wanken geraten. Nicht sofort, aber eines fernen Tages. Denn etwas ist neu diesmal. Es ist das Ausmaß des Zorns. Es ist, als beginne Millionen Usern überraschenderweise erst jetzt zu dämmern, dass sie bei Facebook, Twitter, Snapchat und Instagram weder Kunde noch König sind, sondern das Produkt selbst. Dass sie – im Wortsinne – verraten und verkauft werden. Das Web 2.0, das vor zehn Jahren seinen Siegeszug als Mitmachinternet antrat, ist an einem kritischen Punkt angelangt.
Immer dieses Liken
Die Frage lautet: Wie sozial sind die sozialen Medien? Wie könnte eine digitale Welt aussehen, die die Technologie nicht für die dunklen Seiten des Menschseins nutzt, für seine Sucht nach Bestätigung, seine Lust am Abgründigen und Garstigen, sondern die das alte pathetische Heilsversprechen der Techno-Hippies im Silicon Valley tatsächlich einlöst – nämlich Menschen zu vernetzen und zu versöhnen, statt sie gegeneinander aufzuhetzen?
2,5 Milliarden Menschen nutzen Soziale Medien. 2021 werden es drei Milliarden sein. Vielerorts aber ist von “Social Media Fatigue“ die Rede. Von Ermattung. Immer dieses Liken von Urlaubsbildern. Das ständige “Ping“ von Whatsapp. Der grobe Unfug, der durch die Timelines suppt. “Inzwischen arbeiten nicht die Sozialen Medien für uns, sondern wir für sie“, stöhnt Jeanne Lewis, Chefin der App Capsure.
Weit schwerer aber wiegt das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren. Nur gelittener Gast in einem System zu sein, das – wie der Whistleblower Christopher Wylie schrieb – die “inneren Dämonen der Menschen ins Visier genommen hat“. Es gibt, wie im analogen Leben, auch im Netz eine tiefe Sehnsucht nach Übersichtlichkeit. Nach Grenzen.
Friedhof der Gruscheltiere
“Dont‘ fix Facebook. Replace it“, fordert der US-Professor Tim Wu von der Columbia Universität in New York. Facebook ersetzen? Wie denn? Und womit bloß? Der Friedhof der Gruscheltiere ist voll von verendeten Hoffnungsträgern wie StudiVZ, MySpace, De.li.ci.ous, Apple Ping, Eons, Diaspora, Frienster, Google+, Ello, Yo, MeetUp, Bumble, Nearify, Jenbr, CyWorld, Bebo, Path. Sie alle schafften es nicht, eine kritische Masse zu locken und zu binden. Der aktuellste Kandidat heißt Vero. Prognose: Er wird es nicht schaffen.
Sicher scheint: Es wird kein besseres, geläutertes Facebook geben. Denn dafür müsste die Firma ihr Geschäftsmodell aufgeben – und einen Geburtsfehler korrigieren, an dem alle Sozialen Netzwerke leiden: Facebook ist gar kein Soziales Netzwerk. Es ist ein geschlossenes System. Ein großes zwar. Aber ein geschlossenes. Das Ziel von Facebook ist ja nicht, Menschen zu verbinden, sondern Menschen möglichst lange bei Facebook zu halten. Das Ziel von Twitter ist nicht, Twitterer zu verbinden, sondern ihnen möglichst viel Werbung zu zeigen.
Soziale Netzwerke basieren auf antisozialer Abschottung
Das Werkzeug dafür ist jenes dopaminbefeuerte Belohnungssystem mit “Likes“ und Herzchen, das den uralten narzisstischen Trieb jedes Menschen befriedigt, sich in den Augen der anderen zu spiegeln und Bestätigung zu bekommen. “Facebook und Google versichern voller Überzeugung, dass sie den Usern nur geben, was sie haben wollen“, sagt der kritische Risikokapitalgeber Roger McNamee – “aber das Gleiche lässt sich über Tabakfirmen und Drogendealer sagen.“
Das gesamte Prinzip der heutigen Sozialen Netzwerke basiert also auf einer antisozialen Idee: Sie schotten sich ab. Sie belohnen extreme Meinungen und populäre Lügen mit dem süßen Gift der Bestätigung. Sie begünstigen Filterblasen. Und für jedes Netzwerk ist ein eigenes Konto erforderlich. Twitterer können nur mit Twitterern kommunizieren, Facebooker nur mit Facebookern.
Aber gibt es Früchte des Zorns? Kann der Datenklau-Skandal die digitale Emanzipation beschleunigen? Am Horizont dämmern drei Visionen für neue, anders funktionierende Soziale Netzwerke herauf:
Modell 1: Rückzug
Nicht einem Riesen wie Facebook könnte die Zukunft des Austauschs gehören, sondern kleinen, sicheren Rückzugsräumen. Gruppenchats, Messengern, Nachbarschaftsnetzwerken. Stichwort: “Dark Social“. Hier sind Privatnachrichten nicht verfolgbar, Daten nicht trackbar. 84 Prozent allen digitalen Teilens geschieht bereits auf “Dark Social“-Plattformen. Junge Konsumenten fliehen in Scharen in Netzoasen, in denen keine Firma sie aufspüren kann. “Die Jungen sind bei Snapchat, Yellow, Monkey, Whisper“, sagt der Zukunftsforscher Mark Pesce.
“Social Messaging“ (privater Austausch) hat “Social Media“ (öffentlichen Austausch) 2017 erstmals überholt: Allein bei Whatsapp werden täglich 55 Milliarden Nachrichten verschickt. Gerade hat Facebook die kleine Firma tbh gekauft (to be honest). Sie hat eine App entwickelt, mit der sich Teenager Komplimente machen können. Auch Facebook ahnt also: Die Zukunft des Netzes ist nett, privat und anständig. Aber wie soll ein zynischer Riesentanker plötzlich nett und anständig werden, dessen Gründer User einst als “dumb fucks“ beschimpfte, als “bescheuerte Idioten“?
Modell 2: Regulierung
Die EU, die US-Regierung, die Digitalminister – sie alle rufen nach Regulierung, Datenschutz, Zerschlagung gar. Doch Facebook und Google sind mächtig genug, mit den Schultern zu zucken. Sie tun nur, was sich nicht vermeiden lässt. Und geben sich unschuldig.
“Jede Technologie, die jemals entwickelt wurde, kann mit guten oder mit schlechten Absichten benutzt werden“, beteuerte Facebook-Vize Sheryl Sandberg gerade wieder. So ähnlich klangen auch die Erfinder der Atombombe. Möglich, dass sie eine Bezahloption einführt, die Werbung ausblendet. “Pay for Peace“ heißt das Prinzip. Bezahlen für den Frieden. Am Ende aber können es wohl nur die Nutzer selbst richten. Und das führt uns zu
Modell 3: Revolution
Ein halbes Dutzend globaler Konzerne definiert, was Milliarden Menschen im Netz sehen, kaufen, lesen und tun. Die Politik will einschreiten, regulieren, strafen, überwachen. Aber gibt es einen dritten Weg? “In der gesamten Menschheitsgeschichte galt der öffentliche Raum als nicht kommerziell – heute haben wir daraus einen gigantischen Anzeigenmarkt gemacht“, kritisiert der britische Historiker Niall Ferguson in seinem neuen Buch. “Das ist verrückt.“
Was, wenn sich das digitale Sozialleben von den Konzernen emanzipiert? Wenn es ein offenes Protokoll für sozialen Netzaustausch gäbe? Auch E-Mails waren in der Frühzeit des Netzes geschlossene Systeme. Bis sich die Netzwelt auf einen offenen Standard einigte. Was, wenn auch soziale Netzwerke – wie Fernsehen, Mails, Mobiltelefone und Musikstudios – offenen Standards unterlägen? Dann wäre “Social Media“ nicht mehr plattformabhängig. Kein “Ort“ mehr, den man aufsucht, um sich auszutauschen. Sondern das Netz selbst. Ein offenes, transparentes, flexibles, einheitliches Protokoll für den Austausch über alle Kanäle hinweg.
Rückeroberung der digitalen Freiheit
Nutzer könnten direkt Webseiten von Menschen und Marken folgen, statt nur ihren Twitter- oder Facebook- Ablegern. Niemand wäre von nebulösen Algorithmen abhängig. Die Blockchain-Technologie – die als besonders manipulationssicher gilt, weil sie Informationen nicht auf zentralen Servern speichert, sondern auf allen Rechnern des Netzes – könnte dazu führen, dass eines Tages jeder einzelne Post bis zu seinem Urheber rückverfolgbar wäre. Und dass jeder Netznutzer sein eigener Mark Zuckerberg würde. Die Gemeinschaft könnte – ähnlich wie in einer Art XXL-Wikipedia – Lügen, Hass und Propaganda selbst kontrollieren. Das gewaltige Potenzial von Blockchains ist erst erahnbar. Es wäre die Rückeroberung der digitalen Freiheit.
Eine romantische Utopie, die die kommerziellen Giganten schon verhindern werden? Eher der natürliche Gang der Dinge. “Glühbirne, Kaffeemaschine, Getränkedose, Feuerzeug, Telefon – praktisch jedes Produkt wurde erst von der Firma kontrolliert, die es erfand, dann für Zweitanbieter geöffnet und schließlich zum offenen Industriestandard, völlig losgelöst vom Urheber“, schreibt der schwedische Digitalisierungsexperte Thomas Baekdal.
Und wer verfolgt dann Verstöße gegen Recht und Ordnung? Nicht widerwillige Firmen, sondern das Organ, das für Gesetzesverstöße zuständig ist: der Staat. Er lässt nicht bloß illegale Inhalte löschen, sondern verfolgt nach einer Anzeige den Täter selbst. Es wäre auch eine Renaissance der Gerechtigkeit.
Von Imre Grimm