Die Welt verwandelt sich in ein globales „Hildesheim“
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200 Städte pro Jahr: Autor Wladimir Kaminer.
© Quelle: Michael Ihle
Berlin. Als Geschichtenerzähler habe ich keine Sommerpause. Jedes Jahr besuche ich um die 200 deutschen Städte, dazu noch ein paar im Ausland, dort wo die Menschen Deutsch verstehen, in Österreich, Süddänemark, Belgien und der Schweiz.
Wenn meine Mutter mich unterwegs anruft und fragt: „Wo bist du mein Junge?“, dann schaue ich aus dem Fenster des Hotels und frage mich: „Wo bin ich eigentlich?“ Meistens befinden sich die Hotels in einer Fußgängerzone, ich sehe ein Parfümgeschäft, eine Drogerie, eine Apotheke, einen Sportladen, die mollige Blondine hinter dem Tresen der Bäckerei schaut gelangweilt über die Brötchen hinweg in die Ferne. Die Menschen sehen aus wie Touristen, alle tragen kleine Rucksäcke, alle haben Wasserflaschen in der Hand und alle machen Selfies, sie fotografieren unermüdlich sich selbst, als hätten sie Angst, in der austauschbaren Geschäftelandschaft zu verschwinden.
Dann sage ich meiner Mutter, ich sei in Hildesheim, sie weiß nicht, wo das ist. Eine Folge der Globalisierung ist die Nivellierung der Einkaufsstraßen. Die Welt verwandelt sich in ein globales Hildesheim. Die einzige Möglichkeit festzustellen, wie die Stadt wirklich heißt, befindet sich am Bahnhof. Dort, vorn am Gleis, steht das Schild mit dem Namen der Stadt. Der Zug fährt schnell vorbei. Wenn ich zur rechten Zeit nicht aus dem Fenster schaue, ist es nicht mehr möglich, die Stadt zu erkennen. Wenn ich von meinen Reisen nach Hause komme, gehe ich auf der Straße, in der ich wohne, an der Drogerie, der Apotheke, dem Sportgeschäft vorbei und an der Bäckerei mit der Blondine, die einmalig im ganzen Land ist: Unsere Blondine ist nämlich brünett.
Wladimir Kaminer lebt als Schriftsteller in Berlin.
Von Wladimir Kaminer