Ein Dorf sieht schwarz

Ein Ort im Ausnahmezustand: Vorgärten werden zu Verkaufsflächen, auf der Dorfstraße Wackens flanieren Tausende Metal-Fans.

Ein Ort im Ausnahmezustand: Vorgärten werden zu Verkaufsflächen, auf der Dorfstraße Wackens flanieren Tausende Metal-Fans.

Wacken. Die Katze bleibt regungslos liegen. Gerade noch huschte sie über die kleine Straße, dort wo sie wahrscheinlich schon so oft gemütlich entlanggelaufen war. Dann hat sie das Auto erwischt. So viel Verkehr war sie nicht gewohnt. Nicht hier, im schleswig-holsteinischen Wacken mit seinen 1850 Einwohnern, wo zwei Hände genügen, um die Geschäfte der Hauptstraße aufzuzählen. Wo die Gemeinde-Website Bau-Interessierte mit günstigen Wasser- und Abwasserpreisen lockt und es auch Stunden gibt, in denen kein Auto vorbeifährt.

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Wacken ist ein Ort wie Tausende andere kleine Ortschaften in Deutschland auch. Und doch ist Wacken anders. Denn einmal im Jahr, stets am ersten Augustwochenende, verleihen 75 000 Metal-Fans diesem Ort seine Bedeutung. Für drei Tage kommen sie in Autos, Campern und Lastwagen, um das Kaff in ein Tollhaus zu verwandeln. Zum größten Metal-Festival der Welt. Wie ein friedliches, schwarz gekleidetes Heer rücken sie in Wacken an, die Schlangen der Autos reichen kilometerweit. Der Unfall mit der Katze bringt die Karawane kurz zum Stehen.

Einer der Dorfbewohner beobachtet die Szene. Sofort springt er auf, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Wie so viele sitzt er an einer der Auffahrten und beobachtet die Invasion der schwarzen Masse. „Freu dich, du bist in Wacken!“, rufen sie. Als Dank recken die Fahrer ihre Finger zum Metal-Zeichen: Zeigefinger und kleinen Finger hoch, die übrigen eingeklappt. „Das hat so Tradition“, sagt einer der Anwohner und ahmt die „Pommesgabel“ nach.

Wacken ist zur Marke geworden

Nach der Begrüßung (meist gegrölt: „Waaaaaackäääähnn!“) beginnt für die Gemeinde das Geschäft. Längst sind Festivals zu einem der wichtigsten Zweige der Veranstaltungsindustrie geworden. Allein 2013 (neueste Daten) betrug der Umsatz deutscher Festivals laut Bundesverband der Veranstaltungswirtschaft 336 Millionen Euro. „Vor 20 Jahren gab es vielleicht vier große Festivals“, sagt Verbandspräsident Jens Michow, „heute sind es um die 300.“ Damit wuchs die Zahl der Veranstaltungen schneller als die Zahl ihrer Besucher.

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Einige der großen Musikfestivals der Republik – insgesamt gibt es jedes Jahr um die 300.

Einige der großen Musikfestivals der Republik – insgesamt gibt es jedes Jahr um die 300.

Um trotzdem Zehntausende Besucher anzulocken, setzen Veranstalter auf immer luxuriösere Angebote. Selbst beim Wacken-Festival, das sich öffentlich gern schmutzig-schlammig-wild präsentiert, sind mittlerweile auch hochpreisige Schlammlos-Angebote verfügbar. Im Hotel mit Frühstück und Dusche etwa oder auf einem gehobenen Zeltplatz in Mietbullis.

Zusätzlich sind für fast alles eigene Wacken-Produkte erhältlich: das Wacken-Klebeband, das Wacken-Auto-Set, die Wacken-Uhr, die Wacken-Sonnenbrille. Denn längst hat sich Wacken vom Festival gelöst und zu einer Marke entwickelt. Unzählige Dokus und Bücher zementieren diesen Kult. Derzeit dreht Regisseur Michael David Pate einen Kinospielfilm über die Wacken-Gründung, der sein Übriges dazu beisteuern wird, Wacken vollends zur Legende werden zu lassen.

Werbung ist eine wichtige Einnahmequelle: Am Himmel über dem Festival leuchten die Markennamen.

Werbung ist eine wichtige Einnahmequelle: Am Himmel über dem Festival leuchten die Markennamen.

Angefangen hat alles in einer Kiesgrube mitten in der norddeutschen Pampa mit wenigen Hundert Gästen. Es war das Jahr 1990, Heavy Metal war tot, noch nicht einmal Metallica massentauglich, und die Idee der Festivalgründung eigentlich bekloppt. 12 D-Mark kostete ein Ticket damals. Dass es heute 220 Euro sind zeigt, wie sehr sich der Metal und die Festivalkultur verändert haben. Aus den verschrobenen Gruben-Jungs von früher, den Gründern Holger Hübner und Thomas Jensen, sind heute Leiter eines erfolgreichen, mittelständischen Unternehmens geworden, das in zwei Wochen im Jahr zu einem der größten der Region anschwillt und auch vor und nach dem Festival mit weiteren Veranstaltungen lockt. Mittlerweile ebenfalls buchbar: Metal-Urlaube, Metal-Kreuzfahrten und ein Metal-Winter-Festival – dazu ein Sportwettkampf, gesponsert von einem Lutschpastillen-Hersteller.

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Eine einzige Konsummeile

Im Sponsoring liegt neben den immer happigeren Preisen die zweite Umsatz-Säule von Festivals: Wer auf dem Festival eincheckt, bekommt dazu eine Tüte mit allerlei Nützlichem – plus Werbeflyer und Pröbchen. Auf dem Konzertgelände selbst erheben sich grell leuchtende Markenlogos von Kaffee, Bier, Klebeband und Telekommunikationskonzern über die Masse aus Schwarz und Haut. Dazu schlurfen fortwährend hitzegeplagte Zigarettenverkäufer über die Plätze, umringt von Essens-, Getränke-, Werbe- und Verkaufsbuden, gegen deren Preise jeder Flughafenkiosk günstig ist. Sie alle sind gerammelt voll. Festivals setzen der Deutschen Sparinstinkte außer Kraft.

Und weil dem so ist, ist auch das Dorf rund um das eigentliche Festival während des Festivals eine einzige Konsummeile. Die einen Anwohner haben ihre Einfahrten an Händler vermietet, die anderen bewirtschaften diese selbst. Sie alle verdienen daran. Als erstes kam das Hangover Wacken auf diese Idee, ein familienbetriebenes Vier-Tage-Restaurant. Die Veranda ist zur Theke umgebaut, dahinter eine Küchenplatte auf Kühlschränken. Im Garten steht ein Kühlwagen, in der Küche brutzelt Speisen, wer gerade nicht im Verkauf arbeitet. In jedermanns Augen liegt Müdigkeit.

Geschäfte in Wacken: In den Vorgärten der Anwohner werden Getränke ausgeschenkt.

Geschäfte in Wacken: In den Vorgärten der Anwohner werden Getränke ausgeschenkt.

Vor dem Eingang fahren Harkon und Simon, beide 16 Jahre alt, mit ihren Rädern auf und ab. Sie sammeln das Pfand der Trinkfreudigen. Bei Simon kamen so im vergangenen Jahr 180 Euro zusammen. Ein Handy hat er sich davon gekauft. Harkon hingegen spart lieber. Die beiden sind zwei von unzähligen Pfandsammlern. Sie teilen sich die Straßen mit Kettcarfahrern wie dem zwölfjährigen Johannes. Er bringt Camper mit Großeinkäufen in seinem Anhänger zum Zeltplatz. Kostenpunkt: 10 Euro. Ein Freund hatte die Idee. Jeder fährt sooft er kann, am Ende wird geteilt. Profi-Fahrer pimpen ihr Vehikel mit Hupe und Warnleuchte.

Service in Wacken: Camper lassen sich von Kettcarfahrern die Einkäufe bringen.

Service in Wacken: Camper lassen sich von Kettcarfahrern die Einkäufe bringen.

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Zu schleppen gibt es viel: Bier sowieso, aber auch Andenken und Campingbedarf. Der nahe gelegene Baumarkt hat dafür in einem Vorgarten extra eine Teilzeitniederlassung gegründet. Auch ein regionaler Bäcker mietete für die Festival-Zeit ein leer stehendes Ladenlokal. Die örtliche Backstube Sievers verkauft sogar spezielles Wackenbrot mit besonders starkem Geschmack dank Karotte, Rucola, Zwiebeln und Gewürzen.

Bis 2020 ausgebucht

Einige Anwohner vermieten ihre Duschen zum schlammlosen Reinigen für 2 Euro, andere ihren Garten zum ruhigeren Campen, die Gaststätten der Umgebung sind bis 2020 ausgebucht. Und selbst vor der Apotheke hat sich eine Schlange gebildet. Die Top 3 der verkauften Produkte: Blasenpflaster, Kopfschmerztabletten und Magen-Darm-Medikamente. In diesem Jahr sind wegen Hitze und Staub zudem Nasenspray und Augentropfen beliebt.

Nicht weit entfernt befindet sich das Wacken Café. Den Kaffee von Antonio Jose Julia-Allen und Lutz von der Geest, beides Maschinenbauer, gibt es hier zu kaufen. Als bei einem Kunden eine Röstmaschine streikte, sprachen sie drüber – und nicht lange, da wollten sie auch so eine. An einem Sonntag bei einem Fußballspiel war das. „Am Montag dann haben wir die Firma angemeldet.“ Heute rösten die beiden mehrere Tonnen jährlich direkt vor Ort. Das Ganze ist ein Hobby, verdienen tun die beiden kaum daran, und einen Teil der Einnahmen spenden sie. Diese Seite des Festivals gibt es ebenfalls: Nicht alle verdienen für sich selbst, sondern einige eben auch für andere. 60 Frauen beispielsweise backen Kuchen, die sie für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei verkaufen; die Mitarbeiterinnen des örtlichen Kfz-Service nähen den Winter über Herzen, die sie gegen Spenden für wohltätige Aktionen nun abgeben. Auch das machen sie jedes Jahr.

Metal-Fans mögen Beständigkeit

Metal-Fans mögen die Beständigkeit. Sie sind anders als die Besucher anderer Konkurrenz-Festivals, sie wachsen nicht raus aus ihrer Musik. So ist die größte Gruppe der Festivalbesucher laut Meinungsforschungsinstitut YouGov aus dem Jahr 2015 zwischen 18 und 24 Jahren alt. In Wacken sind alle Altersstufen vertreten. Einmal Metal-Fan, immer Metal-Fan. Und irgendwann bringt man eben die Enkel mit oder die Urenkel. Metaller ist man aus Leidenschaft, das zeigt zum Beispiel Riccardo Möller, der extra aus Abu Dhabi nach Deutschland reiste, seine Freundin halb versetzte, um zu dreckiger Musik dreckig zu tanzen. Oder Gunnar Polansky, der mit seiner Frau 20 Minuten von Wacken entfernt in einem Gasthaus schläft, um die Tage auf dem Festgelände zu verbringen. Das zeigen Hunderte, die mit Kindern anreisen, die stolz ihren 15. Besuch verkünden oder die für ihre üppigen Zeltplatz-Konstruktionen ein ganzes Monatsgehalt verprassen.

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Ähnliche Beständigkeit herrscht auch bei den Einwohnern Wackens. „Das ist ja das einzige Mal, dass richtig was passiert im Dorf“, sagt ein Anwohner. Ein anderer ergänzt: „Wie kann man etwas dagegen haben, wenn jeder daran verdient?“ Tatsächlich verdienen unzählige Dorfbewohner an den Metal-Fans. Die Kinder an Kettcars und mit dem Pfandsammeln, die Erwachsenen durch die Verpachtung der Felder, die Vermietung der Vorgärten oder eigene Geschäfte, die Läden im Ort durch dauerklingelnde Kassen. Sie alle profitieren vom Glasfaserausbau für das Festival, von dem andere Gemeinden nur träumen können.

„Das ist ja das einzige Mal, dass richtig was passiert im Dorf“: Anwohner beobachten die Metalfans in Wacken.

„Das ist ja das einzige Mal, dass richtig was passiert im Dorf“: Anwohner beobachten die Metalfans in Wacken.

Wer nicht mitmacht, bekommt sein Haus auf Wunsch vollständig eingezäunt, damit niemand sich daran entledigt. Wem etwas kaputtgeht, der bekommt Ersatz. Beschwerden gibt es trotzdem manchmal, aber nur leise. Darüber, dass einige Anwohner vier Tage lang nicht zu ihren eigenen Wohnungen fahren dürfen etwa. Oder darüber, dass mit den Metal-Fans auch die Metal-Fan-Touristen kommen auf der Suche nach Skurrilitäten.

In der Eröffnungsnacht, kurz nach 0.30 Uhr, die Band Judas Priest hat gerade gespielt, pilgert der erste Teil der Fan-Karawane selig zum Zeltplatz. An ihren Füßen klebt Staub, an ihren Körpern der Schweiß, in ihren Gesichtern das Glück, verstärkt von Alkohol, fiepsenden Ohren und hitzetumben Köpfen. Die Band hat ein grandioses Konzert gespielt. Für Konzerte wie dieses kommen die Fans her. Noch bis Sonntagabend. Danach beginnt die ruhige Jahreszeit in Wacken. „Es ist jedes Mal schön, wenn das Festival beginnt“, sagt einer der Anwohner, nachdem der erste Ansturm bewältigt ist. Dann fügt er hinzu: „Und jedes Mal freut man sich, wenn es anschließend wieder aufhört.“

Von Julius Heinrichs/RND

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