Fukushima als Austragungsort: Vergessen von Olympia
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Die Einwohner von Fukushima haben ihren Schrein restauriert, damit die Götter wieder herkommen können.
© Quelle: Felix Lill
„Da drüben ist der Schrein der Gemeinde“, sagt Yamane und stapft einen Kiesweg entlang. Im Schatten prächtiger Baumkronen und besungen von zirpenden Grillen steht das Gebetszentrum von Futuba da wie der Stolz des Ortes: ein Eingang aus glänzendem Marmor, die Türen des Schreins aus hellem Holz. Das alte Dach, das den Schock irgendwie überlebte, wurde auf die neue Struktur draufgesetzt. „Dieses Dorf ist zwar seit Jahren verlassen. Aber die Einwohner haben Geld gesammelt, um wenigstens ihren Schrein zu restaurieren, damit die Götter wieder herkommen können“, sagt Yamane. „Das rührt mich jedes Mal, wenn ich herkomme.“
Zwischen Sehnsucht und Sorge
Yamane ist seit einigen Jahren in Futaba zu Hause, auch wenn er nicht im Ort leben kann. Der 36-Jährige kam 2013 als Aufbauhelfer, gut zwei Jahre nach der Katastrophe von Fukushima. Seine Aufgabe war es, eine Chronik der verlassenen Ortschaft zu erstellen, um Erinnerungen zu bewahren. Und je mehr er die quer durchs Land verstreuten Evakuierten befragte, umso enger wuchs ihm das traditionsreiche Dorf, das erst von der Landwirtschaft und später von der Atomkraft lebte, ans Herz.
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Futaba, durch das Chronist Tatsuhiro Yamane führt, ist eine Geisterstadt.
© Quelle: Felix Lill
Der junge Mann aus Tokio heiratete eine Frau aus Futaba, nahm ihren Nachnamen an, hat heute zwei Kinder mit ihr. Seit Anfang des Jahres ist Yamane auch Gemeinderatsmitglied, muss diesen Job allerdings aus der eine Stunde südlich gelegenen Großstadt Iwaki ausführen. Er steigt ins Auto und steuert die Küste an. „Sobald es wieder möglich ist, wollen wir mit der Familie nach Futaba ziehen.“ Ein Zeichen setzen, damit auch andere zurückkommen.
Ganze Dörfer wurden verschluckt
Gut 6000 Einwohner lebten einst in der heutigen Geisterstadt. Als am 11. März 2011 zuerst die Erde mit einer historischen Stärke von 9,0 bebte, dann ein an die 20 Meter hoher Tsunami über die Nordostküste des Landes hereinbrach, erlitt Japan die größte Katastrophe seiner jüngeren Geschichte. Ganze Dörfer der Präfektur Fukushima wurden vom Ozean verschluckt. Hunderttausende verloren ihr Zuhause, ungefähr 20.000 Menschen starben.
Das in Futaba und dem Nachbarort Okuma gelegene Atomkraftwerk Fukushima Daiichi havarierte. So mussten hier auch jene das Weite suchen, deren Häuser nicht zerstört waren. Nach den Kernschmelzen wurde im Umkreis von 30 Kilometern der Ruine alles evakuiert.
Und doch: Als Yamane gerade von Tokio gen Norden nach Futaba fuhr, um zu helfen, wurde am anderen Ende der Welt Großes verkündet: Olympia kommt nach Japan.
„Einige von Ihnen machen sich womöglich Sorgen über Fukushima“, sagte der damalige Premierminister Shinzo Abe hinter einem Rednerpult in Buenos Aires. „Aber lassen Sie mich Ihnen versichern: Die Situation ist unter Kontrolle.“
Diese Haltung dürfte am 7. September 2013 auf der Generalversammlung des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) entscheidend dazu beigetragen haben, dass Tokio das Austragungsrecht für die Sommerspiele 2020 gewann. Obwohl auch über der Hauptstadt das Fragezeichen radioaktiver Belastung hing. Mit seinem bestimmten Auftreten aber machte Abe daraus ein Ausrufezeichen. Tokio sei der zuverlässigste Austragungsort überhaupt. Nicht nur das: Wenn die größte Sportveranstaltung der Welt nach Japan käme, würden auch die Katastrophengebiete profitieren.
Spiele des Wiederaufbaus?
Als die siegreichen Bewerber zurück nach Japan reisten, prägten sie das Motto „fukkou gorin“ – Spiele des Wiederaufbaus. Sie scheuten nicht den historischen Vergleich. 1964 war Tokio erstmals olympischer Gastgeber. 19 Jahre nach den verheerenden Atombomben über Hiroshima und Nagasaki präsentierte sich Japan als wiederauferstanden. Der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen raste durchs Land, die Hotels waren hochmodern, Olympia wurde erstmals weltweit live per Satellit übertragen.
Jetzt finden die Spiele, pandemiebedingt verschoben, im selben Geist statt: Die Wehen der Krise sollen abgeschüttelt, der Blick von der schmerzvollen Vergangenheit in die Zukunft gelenkt werden. Um dies zu symbolisieren, laufen die Olympischen Spiele in Fukushima schon seit Mittwoch, zwei Tage vor der Eröffnungsfeier in Tokio. Im Azuma Stadion der Präfekturhauptstadt Fukushima-Stadt finden Wettbewerbe im Softball und Baseball statt.
Alles wird auf Radioaktivität geprüft
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„Du kannst es nicht riechen, schmecken oder fühlen. Es ist einfach da.“: An der Küste betreibt Koch Takanori Asami neben dem Museum über die Katastrophe von 2011 ein kleines Restaurant.
© Quelle: Felix Lill
Tatsächlich ist seit der Katastrophe ja einiges passiert. Vertreter der Regierung in Tokio betonen es: Mehr als 90 Prozent der zerstörten Gebäude sind wieder errichtet. Die Wirtschaftskraft der Region hat in etwa ihr Vorkrisenniveau erreicht – auch wenn sich die Umsätze nicht zuletzt durch die Wiederaufbauaktivität erklären. Zudem signalisiert man, dass die hier produzierten Lebensmittel wie Reis, Pfirsiche und Fisch sicher sind: Alles wird auf Radioaktivität geprüft. Und in den meisten Orten haben Rücksiedlungen begonnen. Rund 40.000 Menschen sind offiziell noch evakuiert.
Es sind Zahlen, die man an der Küste von Fukushima gut kennt. Denn sie täuschen auch über die Realität hinweg.
„Das mit den Wiederaufbauspielen war doch vor allem PR“, sagt Takanori Asami und wischt sich bitter lächelnd den Schweiß von der Stirn. Nach der Mittagspause putzt er die stählerne Arbeitsplatte seiner Küche. Der Foodcourt wurde vor einem Jahr an der Küste eingerichtet, als nebenan ein Museum über die Katastrophe von 2011 eröffnete, ist eines der Wahrzeichen des Wiederanfangs. Aber eben nicht nur das.
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Spiel vor leeren Rängen: Gastgeber Japan hat mit einem 8:1-Sieg im ersten Softballspiel des olympischen Turniers gegen Australien gewonnen.
© Quelle: imago images/AFLOSPORT
„Man muss ja nur mal da drüben in die Ausstellung gehen und dann einen Spaziergang durch Futaba machen“, sagt der 45-Jährige. „Dann weiß man Bescheid.“ Asami bietet Yakisoba an, ein Gericht würzig-süß gebratener Nudeln, für das die Nachbarstadt Namie bekannt ist. Namie, wo Asami bis zur Katastrophe lebte, musste ebenfalls evakuiert werden, teilweise Rücksiedlungen wurden 2017 angeordnet.
An einigen Stellen liegt dort die Radioaktivität heute unterhalb von 0,23 Mikrosievert pro Stunde. Dies war vor der Atomkatastrophe der Richtwert für sichere Lebensbedingungen. Vielerorts sind die Werte aber deutlich höher. Nach der Katastrophe wurde der Schwellenwert auf das 20-fache angehoben. Deshalb ist Namie nun wieder bewohnt.
Die Angst ist mit eingezogen
Aber die Angst ist mit eingezogen. „Du kannst es nicht riechen, schmecken oder fühlen. Es ist einfach da. Und dann ist da plötzlich ein Hotspot“, sagt Asami. „Das hier ist unsere Heimat. Aber sie ist anders als die alte.“
So findet er es unangebracht, dass die Spiele unter dem Banner des Wiederaufbaus stattfinden, von den Risiken der Pandemie ganz abgesehen. „Ich bin selbst Sportler gewesen. Hab versucht, mich für die Spiele von Atlanta 1996 im Boxen zu qualifizieren. Aber das hier passt doch nicht zusammen.“ Zumal bis heute nicht nur ganze Orte unbewohnt bleiben. Aus der Zahl der immer noch Evakuierten sind diejenigen rausgerechnet, die nicht zurückkehren wollen. Vor allem junge Familien, die längst anderswo Wurzeln geschlagen haben.
Tatsuhiro Yamane schaltet den Motor aus, als er ein Wohngebiet erreicht. Ein paar Bagger reißen alte Häuser ab. Der Lokalpolitiker deutet hinter verwachsene Hecken. „Hier lebte meine Frau mit ihrer Mutter, bis sie gehen mussten.“ Ein stattliches Haus, zwei Stockwerke, ein Vorgarten aus Kies. Als Yamane die Glastür zum Wohnzimmer aufschiebt, dringt muffiger Geruch heraus. Auch hier ist die Decke eingestürzt, Kleider liegen auf dem Boden, ein Kalender dokumentiert das Jahr 2011. „Sie hatten zwei Stunden, um das Wichtigste mitzunehmen.“ Die Yamanes überlegen, ob sie das Haus abreißen lassen, da sie hier wegen der hohen Strahlung ohnehin nie wieder einziehen werden. Aber das fällt schwer.
„Hier spürt man nichts von Erholung“
Ein neues Haus ist Zukunftsmusik. In der Nähe der Mehrzweckhalle, unweit der abgeriegelten Atomruine, maß der Geigerzähler zuletzt 2,88 Mikrosievert. Eine Umfrage unter den Ex-Bewohnern von Futaba hat ergeben, dass nur noch 10 Prozent zurückkehren wollen.
Hat Olympia bei der Erholung geholfen? Tatsuhiro Yamane blickt stöhnend gen Himmel. „Hier spürt man nichts davon.“ Von dem vielen Geld, das investiert wurde, sei hier kaum etwas angekommen. „Die Bedürfnisse der Menschen hier wurden wenig gehört.“ So zweifelt Yamane, ob er sich für die Spiele erwärmen kann, obwohl sein geliebter Sport Baseball in der Nähe ausgetragen wird.
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Das Stadion von Fukushima-Stadt wurde von Beben und Tsunami kaum beschädigt. Jetzt ist es olympische Wettkampfstätte.
© Quelle: Getty Images
Aber eben doch nicht wirklich in der Nähe. Fukushima-Stadt, das nie evakuiert werden musste, liegt rund 60 Kilometer westlich von Futaba und der Atomruine. Das für die Wettkämpfe renovierte Stadion wurde nie beschädigt. Ein Symbol für den Wiederaufbau ist dieses Stadion nur aus der Ferne. Dass es aber so gesehen wird, ist an der Küste eher eine Befürchtung als eine Hoffnung. Beim Gedanken an den Slogan „fukkou gorin“ sagt Koch Asami: „Ich hoffe, dass mit Ende der Spiele nicht auch gleich der Wiederaufbau für vollbracht erklärt wird.“ So weit sei man noch lange nicht.