„Beispiellose Gewalttat“ gegen nigerianischen Straßenverkäufer schockt Italien
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Italien, Civitanova Marche: Eine Frau legt einen Blumenstrauß an einer Einkaufsstraße ab, nachdem ein nigerianischer Straßenhändler dort angegriffen und zu Tode geprügelt wurde.
© Quelle: Chiara Gabrielli/AP/dpa
Die Tat ereignete sich am vergangenen Freitag, kurz nach 14 Uhr in Civitanova Marche, einem Badeort an der Adria rund 25 Kilometer südlich von Ancona. Und sie passierte auf dem Corso Umberto I, der zentralen und belebten Einkaufsstraße der Kleinstadt. Ein 39-jähriger, aus Nigeria stammender Straßenhändler hatte der Freundin eines 32-jährigen Italieners Taschentücher und Feuerzeuge zum Kauf angeboten. Während die Frau in einen Kleiderladen ging, stürzte sich der kräftig gebaute Täter auf den gehbehinderten Nigerianer, entriss ihm seine Krücke und schlug damit auf ihn ein, bis er zu Boden ging. Dann kniete er sich dem sich verzweifelt wehrenden Opfer auf die Brust, schlug ihm mit den Fäusten ins Gesicht und würgte ihn. Als sich sein Opfer nicht mehr bewegte, nahm er ihm noch sein Handy ab und ging seelenruhig davon.
Das brutale Tötungsdelikt ist als solches schon schockierend genug. Doch beinahe noch verstörender ist die Reaktion der Passanten, die den Mord aus nächster Nähe beobachtet haben: Vier endlose Minuten dauerte die Aggression, aber niemand schritt ein, niemand half dem Mann. Stattdessen haben mehrere Personen das Geschehen mit ihrer Handykamera festgehalten. Ein Mann rief dem Täter zu: „Auf diese Weise bringst du ihn um!“ Er benachrichtigte auch die Carabinieri und die Ambulanz, die nach kurzer Zeit eintrafen. Für den Straßenhändler – Vater einer achtjährigen Tochter – kam die Hilfe zu spät: Er war schon tot, laut den Behörden wahrscheinlich erstickt oder stranguliert. Sein Leichnam wurde mit einer Plane zugedeckt und blieb noch mehrere Stunden am Tatort liegen – vor einem Laden mit Damenunterwäsche. Der Täter wurde kurz darauf gefasst und ließ sich widerstandslos abführen.
„Eine beispiellose Gewalttat“
In Italien, wo nach dem Sturz von Regierungschef Mario Draghi der Wahlkampf begonnen hat und wo insbesondere beim Thema Immigration die Töne schärfer werden, hat die Tat von Civitanova unweigerlich zu einer Polemik über die Motive des Täters geführt. Für den Polizeichef von Macerata war es ein banaler Streit wegen einer wohl etwas zu aufdringlichen Bettelei, die den Täter zu seiner „abnormen Reaktion“ getrieben hätte. Mit Rassismus habe die Tat jedenfalls nichts zu tun. Der Anwalt der Familie des Opfers ist sich da nicht so sicher: „Ich frage mich, ob das Gleiche passiert wäre, wenn es der Täter mit einem Italiener oder einem Amerikaner zu tun gehabt hätte.“ Ob er in diesem Fall das Opfer wegen des „banalen Streits“ auch gleich getötet hätte.
Seitens der Politik ist die Ermordung des Straßenhändlers einhellig verurteilt worden. „Was in unserer Stadt passiert ist, ist eine beispiellose Gewalttat, die uns geschockt hat“, sagte der Bürgermeister von Civitanova Marche, Fabrizio Ciarapica, der einem Mitte-Rechts-Gemeinderat vorsteht. Mehr als einen Tag dauerte es, bis Lega-Chef Salvini sich zu Wort meldete: „So darf man nicht sterben. Ein Gebet für das Opfer und seine Familie. Für den Mörder die verdiente Strafe bis zum Ende“, twitterte Salvini. Die Chefin der postfaschistischen Fratelli, Giorgia Meloni, verurteilte die Tat ebenfalls, bezeichnete allerdings einen TV-Journalisten, der eine etwas raschere Distanzierung erwartet hätte, als „Schakal“. Meloni gilt als derzeit aussichtsreichste Kandidatin für die Nachfolge von Mario Draghi an der Regierungsspitze.
Im Wahlkampfgetöse fast untergegangen ist die Untätigkeit der Passanten, die der Anwalt der Familie des Opfers als „schaudererregend“ bezeichnet. „Man muss sich schon fragen, woher diese schamlose Gleichgültigkeit herkommt: Es scheint, als gebe es in unserer Gesellschaft keinen Bürgersinn, kein Mitgefühl, keine Solidarität mehr.“ Und natürlich müsste man sich auch fragen, warum die Politik bei diesem allgemeinen Wegschauen ebenfalls wegschaut. Der einzige prominente italienische Politiker, der sich entsetzt über den gleichgültigen Voyeurismus der Passanten zeigte, war der frühere Regierungschef und heutige Führer der Fünf-Sterne-Protestbewegung, Giuseppe Conte. „Was für eine Gesellschaft wollen wir den Jungen eigentlich hinterlassen?“, fragte der Ex-Premier.
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