Deutschland – das Land der Dichter und Verpetzer?
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In einigen Bundesländern können Bürger und Bürgerinnen Falschparker mit Fotobeweisen beim Ordnungsamt anzeigen.
© Quelle: Oliver Berg/dpa
Keiner verkörpert dieses deutsche Dilemma so gut wie Klaus P. aus Bielefeld-Schildesche.
2020 meldete er seinem Stadtbezirk 1500 Falschparker und kommt damit auf eine sagenhafte Quote von 41 Anzeigen pro Tag – ganz allein sorgte er so für die Hälfte aller Verkehrsanzeigen in seinem Viertel.
Er wollte erreichen, „dass sich die Menschen an die Regeln halten“, sagte er der Neuen Westfälischen. Er habe aus „gesamtgesellschaftlicher Verantwortung“ gehandelt, sagt er einem anderen Blatt. Klaus P. dachte, er macht alles richtig. Und doch machte er alles falsch – zumindest aus der Perspektive seiner Mitbürger. Sie beschimpften und bedrohten P. – bis er seine Kontrollgänge im letzten Jahr aufgab.
Deutschland, das ist einerseits ein Paradies für Paragraphenreiter, das Land der Ordnung-muss-sein-Mentalitätsmeister. Andererseits gibt es hierzulande wenig rufschädigenderes, als übermäßig penibel auf geltendes Recht hinzuweisen. Dann gilt man als „Verpetzer“, als Förderer des „Denunziantentums“.
Shitstorm für Greenpeace-Meldestelle
Diesen Effekt bekam nun auch die Umweltorganisation Greenpeace zu spüren. Sie richtete jüngst ein Online-Meldeportal für Verstöße gegen eine neue Mehrwegregel ein. Seit Anfang des Jahres verpflichtet ein Gesetz Gastronomen mit To-go-Angebot, neben Plastik-Wegwerfverpackungen auch Mehrwegbehälter als Alternative anzubieten. Doch daran, so soll es eine selbst getätigte Greenpeace-Stichprobe beweisen, hielten sich nur etwa die Hälfte der Restaurants, Imbisse oder Lieferdienste. Greenpeace ruft deshalb dazu auf, „Meldeheld:in“ zu werden und die zuständigen Landesbehörden auf abtrünnige Geschäfte mittels ihres Onlinetools hinzuweisen.
Auf Twitter gab es dafür einen Shitstorm. „Das Ordnungsamt ist für sowas da, nicht irgendwelche Privatpersonen, in denen dieses Portal niederste Instinkte weckt“, fasst der User „BTC-Overthinker“ die Stimmung zusammen.
Ähnliche Reaktionen erntete die Deutsche Umwelthilfe und ihr Geschäftsführer Jürgen Resch, der in einer Mitteilung Bürger zur Anzeige von Falschparkern aufrief. „Wenn jetzt immer mehr Menschen Falschparker fotografieren und Behinderungen zur Anzeige bringen, ist das nichts anderes als Notwehr“, sagte er – und verwies auf die Pflicht der Städte, freie Gehwege zu garantieren.
Die Ehrenrettung von pflichtgetriebenen Bürgern wie dem Bielefelder Klaus P., die fleißig die von Behörden eingerichtete Online-Dienste nutzen, um Parkverstöße anzuzeigen? Mitnichten. Die „Bild“-Zeitung schäumte: „Deutsche sollen ihre Mitbürger verpetzen“. Und sieht zugleich einen Trend zum gesellschaftlichen Anschwärzertum.
Immer mehr „Onlinepranger“?
Wahr ist, dass in den letzten Jahren immer mehr Onlinemelderegister entstanden. Die meisten sind umstritten.
- Der „Meldestelle Antifeminismus“ der Amadeu-Antonio-Stiftung sollen etwa „sexistisch und frauenfeindlich motivierte Übergriffe“ übermittelt werden. Das Familienministerium fördert die Initiative finanziell; Kritiker werfen den Initiatoren eine politische Agenda vor.
- Daneben haben verschiedene Bundesländer Onlinemeldestellen eingeführt, um gegen Rassismus, Antisemitismus oder Queer-Feindlichkeit vorzugehen. In Hamburg können etwa mithilfe des Dienstes „Memo“ „antisemitische, rassistische und rechte Vorfälle gemeldet werden.
- Während der Pandemie richtete die Stadt Essen ein Internetformular ein, um Verstöße gegen die Corona-Maßnahmen zu ahnden.
- Für Aufsehen sorgte im Bundestagswahlkampf 2021 die bundesweit erste anonyme Meldeplattform für Steuerbetrug in Baden-Württemberg.
- Und die AfD verbuchte 2018 den ersten Aufreger in Sachen Meldeplattform, als sie dazu aufrief, angebliche Verstöße von Lehrkräften gegen das Neutralitätsgebot an Schulen zu übermitteln – dabei ging es ihr vor allem um Kritik an der eigenen Partei.
Wird durch die vielen neuen Online-Anlaufstellen das Denunziantentum gefördert? Die gesellschaftlich Spaltung, wie es etwa Union, FDP und AfD den Grünen in Baden-Württemberg wegen ihres „Steuerprangers“ vorwarfen?
Auf die Initiatoren kommt es an
Tatsächlich ist es keine gute Idee, wenn Organisationen wie Greenpeace oder die Deutsche Umwelthilfe zum virtuellen Verpfeifen aufrufen. Umweltschützer sind keine Ordnungshüter – und keine neutrale Instanz, die über Recht oder Unrecht entscheidet. Vielmehr geht es ihnen und Akteuren wie der AfD allein um politische Ideologie und Aufmerksamkeit. Durch Euphemismen wie „Meldeheld:in“ bewirkt man keine Klimawende, sondern befeuert vielmehr die Debatte um die „grüne Verbotsideologie“. Und beschert den Behörden im Zweifel mehr Arbeit, weil politische Gegner und Gastronomiekonkurrenten solche Meldeportale mit Falschmeldungen fluten könnten.
Bei der Greenpeace-Meldestelle kommt hinzu, dass die Regel für Mehrwegverpackungen erst seit Januar gilt; viele Gastronomen werden sich in nächster Zeit der Pflicht und den Gewohnheiten ihrer Kundschaft ohnehin anpassen. Wem mehr Nachhaltigkeit jetzt schon wichtig ist, kann Imbissbesitzer oder -Inhaberinnen erst einmal freundlich ansprechen. Hilft das nicht, ist der 1-Sterne-Google-Verriss immer noch möglich – das hat schon viele Chefs zur Einkehr bewegt.
Anders fällt das Urteil bei staatlichen Meldeportalen aus. So ist es zunächst folgerichtig, dass sich die Verwaltungen an das Onlineleben der Bürger und Bürgerinnen anpassen. Wenn Behördengänge virtuell ersetzt werden können, sollten sie auch ersetzt werden – das gilt auch für das Anzeigen von Falschparkern. Das spart den Beamten Zeit und Geld.
Und um gegen menschenfeindliches Verhalten vorzugehen, sind anonyme Hinweise essenziell. Weil sich Menschen an Ort und Stelle oft nicht wehren können, wenn sie diskriminiert werden. Voraussetzung ist, dass die Vorwürfe rechtlich einwandfrei geprüft werden, damit sie nicht für haltlose Vorwürfe missbraucht werden.
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Bundesländer wollen Portale gegen Steuerbetrug
Aber auch bei den Behörden gilt es, Maß zu behalten. So ist ein Portal für Corona-Verstöße zu Zeiten angespannter Pandemienerven wie in Essen eher unangebracht. Doch wo ein gesellschaftlicher oder finanzieller Mehrwert möglich ist, können die Meldestellen helfen.
Ein Beispiel ist das Steuerportal Baden-Württembergs. Im vergangenen Jahr gingen über das anonyme Portal 3068 Hinweise ein, teilte das dortige Finanzministerium dem „Handelsblatt“ mit. Dadurch konnten die Steuerfahnder insgesamt 89 Verfahren einleiten. Insgesamt nahm Baden-Württemberg durch Online- wie Offline-Hinweise knapp 850.000 Euro an Steuern mehr ein. Nun wollen andere Bundesländer nachziehen und ebenfalls anonyme Meldeportale für Steuerbetrug einrichten.
Und auch das Verhalten der Menschen werden die neuen Onlinetools kaum ändern; Hinweisportale allein machen keine neue Anschwärzer-Massenbewegung. Die Meldung von Verstößen wird zwar einfacher – doch penible Regelhüter, wie es sie in jedem Stadtviertel gibt, kannten auch schon zuvor alle Wege und Möglichkeiten, um ihr Ärgernis zur Anzeige bringen.
Menschen wie Klaus P. aus Bielefeld-Schildesche etwa stecken Parkanzeigen offenbar tief im Blut. Zwar sei er nach den Anfeindungen nun „raus aus der Nummer“, sagte er den Medien noch. Doch habe er neulich auf der Fahrt ins Büro allein sieben Anzeigen schreiben können. Es klingt sehr wehmütig.