Penetrante Maskenverweigerer: Bahnfahrt Richtung Lockdown 2

Pendler mit Mundschutz an einem Bahnhof in Italien. (Symbolbild)

Pendler mit Mundschutz an einem Bahnhof in Italien. (Symbolbild)

Hannover. Können Sie sich noch an diese “Jump ’n’ Run”-Spiele aus den Achtziger- und Neunzigerjahren erinnern? Stundenlang habe ich damals damit verbracht, irgendwelche Hugos, Marios oder Kellogg’s-Figuren über Hindernisse zu ihrem Ziel zu bringen – möglichst ohne dabei auf irgendwelche spitzen Gegenstände, gefährliche Krabbeltiere oder böse Monster zu treffen. Tat man es doch, verlor man ein Leben oder das Spiel war sofort zu Ende.

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Im Juli 2020 ist mein alltäglicher Arbeitsweg ein einziges “Jump ’n’ Run”-Game. Ein einziges Ausweichen vor Gefahren, um gesund ans Ziel zu kommen. Nur dass die gefährlichen Krabbeltiere heute anders heißen. Es sind die Abstands- und die Maskenverweigerer. Und der Endgegner ist der Superspreader. Jede Begegnung mit ihm wird innerlich mit einem schrillen Gameboy-Ton bestraft. Die Spielfigur blinkt aggressiv. Game over.

Maske auf, Nase raus

Klingt bescheuert, ich weiß – aber die Fortbewegung in Bussen und Bahnen ist zum Hochrisikofaktor geworden. Nachdem im Frühjahr noch akribisch auf die von der Bundesregierung beworbene “Aha-Regel” geachtet wurde, begannen die Leute irgendwann, ihre Maske nur noch unter der Nase zu tragen. Man konnte das fast für einen Modetrend halten – es soll ja auch mal eine Zeit gegeben haben (Stichwort Neunziger), da trug man seine Hose unter dem Hintern.

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Aber nein, der Trend hielt nicht lange. Inzwischen trägt man seine Maske unter dem Kinn. Oder aufgehängt am rechten Ohr. Oder einfach überhaupt nicht mehr.

Folgendes Szenario hat sich auf meinem Nachhauseweg in einer Straßenbahn in Hannover exakt so zugetragen: Das Abteil der Bahn ist gut gefüllt, auf einem Viererplatz sitzen zwei Jungs. Beide tragen Maske – der eine jedoch unter der Nase, der andere zieht sein Exemplar ständig auf und ab, berührt den S-Bahn-Sitz, fährt sich noch mal mit der Hand durchs Gesicht und über die Maske.

Reichlich unbeeindruckt davon zeigt sich der Student einen Sitzplatz dahinter: Er trägt, ohne das auch nur ansatzweise infrage zu stellen, einfach gar keine Maske. Einige Sitze weiter telefoniert ein offenbar viel beschäftigter Herr mittleren Alters. Für das Telefongespräch lässt er die Maske am Ohr baumeln – vermutlich, weil die Viren ohnehin durch die 5G-Strahlen seines Smartphones weiterverbreitet werden.

Die Verkehrsbetriebe sehen das anders

An diesem Abend zähle ich in dem Wagon mindestens fünf Menschen, die überhaupt keine Masken tragen, und noch mal mindestens fünf, die sie falsch tragen. Da ist diese junge Mutter, die immer wieder ihre Maske abzieht, um für ihr Kind im Kinderwagen Grimassen zu schneiden. Why? Da ist dieses Grundschulkind und seine Freundin. Sie machen sich mit feuchter Aussprache einen Spaß daraus, das Band der Maske zwischen Mund und Nase zu klemmen. Nur wenige Zentimeter weiter sitzt ein alter Mann – Hochrisikogruppe. Er trägt eine Maske, aber natürlich auch nur unter der Nase.

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Ich könnte ewig so weitermachen. Eine Bahnfahrt ist heute kaum noch ungefährlicher als eine Corona-Party in der Berliner Hasenheide. Ich versuche tagtäglich, die Gefahren zu umgehen, setze oder stelle mich demonstrativ woanders hin. Doch das ist inzwischen kaum noch möglich. Und der Straßenbahnbetreiber scheint dagegen zumindest nichts Ernsthaftes zu unternehmen.

Zwar gebe es gelegentliche Kontrollen, aber: “Eine lückenlose und hundertprozentige Überwachung all unserer Fahrzeuge zu jeder Tages- und Nachtzeit durch geeignetes Personal ist aus Kapazitätsgründen nicht möglich”, sagt die Üstra aus Hannover auf Anfrage. Und überhaupt: Die Beobachtung, dass ein Großteil der Fahrgäste die Maskenpflicht missachte, könne man so gar nicht teilen. Dies decke “sich nicht mit unseren täglichen Beobachtungen, nach denen sich die ganz große Mehrzahl unserer Fahrgäste an die Tragepflicht hält und diese ausdrücklich begrüßt”. Na, dann ist ja alles gut.

Zivilcourage führt zu Gewalt

Es ist aber ohnehin nicht nur die Bahn. Auch an anderen öffentlichen Orten nimmt man die Sache mit dem Mund-Nasen-Schutz längst nicht mehr so genau. Im Supermarkt beispielsweise, wo Kunden im April sogar teilweise mit Securitys kontrolliert wurden, gehen Menschen inzwischen ohne Abstandseinkaufswagen und ohne Maske ein und aus – als hätte es Corona nie gegeben.

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Fast schon erfrischend ist, dass immer mal wieder Kunden oder Fahrgäste selbst eingreifen. Am Morgen in einem Stadtbus in Hannover: Eine ältere Dame kommt in den Bus, läuft einmal bis nach hinten durch – ohne Maske. Eine junge Mutter spricht sie an: “Setzen Sie bitte die Maske auf.” “Hab keine”, entgegnet die ältere Frau. “Dann müssen Sie aussteigen”, antwortet die Mutter bestimmt und mustert die Frau mit einem bitterbösen Blick. “Sie dürfen nicht ohne Maske mitfahren”, wiederholt sie entschlossen. Die ältere Dame wird nervös, kramt daraufhin in ihrer Handtasche – bis sie auf wundersame Weise dann doch eine Maske findet und sie aufsetzt. Geht ja doch.

Dieses Einschreiten von Fahrgästen oder Supermarktkunden ist selten. Und, um ehrlich zu sein: Ich würde es wohl auch nicht machen. Was passieren kann, zeigen Meldungen der vergangenen Tage: In einem Schnellrestaurant in Bremen prügeln aggressive Maskenverweigerer auf einen Mitarbeiter ein, nachdem dieser auf die Maskenpflicht hinweist. In Bielefeld bekommt ein Taxifahrer einen Faustschlag ab – auch er hatte einen Fahrgast auf den fehlenden Mund-Nasen-Schutz hingewiesen. In Speyer verprügelt ein Maskenverweigerer einen Bankangestellten. Noch schockierender eine Meldung Anfang Juli aus Frankreich: Nahe Bayonne prügeln Maskenverweigerer einen Busfahrer hirntot.

Steigende Infektionszahlen wegen Nachlässigkeit

Wer in diesem “Jump ’n’ Run”-Spiel gewinnen wird, hat sich längst entschieden: Es sind die Stärkeren, die Ignoranten – die, die auf jede Form des Infektionsschutzes pfeifen, und auf ihre Mitmenschen sowieso. Man lässt sie einfach machen – entweder weil man keine Handhabe gegen sie hat, oder weil man sich nicht traut. Aus guten Gründen – denn wer will schon eine (vermutlich ungewaschene) Faust im Gesicht haben?

Abgesehen von der unmittelbaren Infektionsgefahr bringen penetrante Maskenverweigerer noch ein anderes Problem mit sich. Am Freitag meldete das Robert-Koch-Institut (RKI) 900 neue Corona-Fälle – die höchste Zahl seit Mai, abgesehen vom lokalen Corona-Ausbruch bei Tönnies.

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Als Ursache für den Anstieg nannte RKI-Präsident Lothar Wieler am Dienstag vor allem Nachlässigkeit bei der Einhaltung der Verhaltensregeln. Dazu dürfte auch der inzwischen äußerst lapidare Umgang mit der Maske gehören: Epidemiologe Holger Schünemann hatte kürzlich im RND-Gespräch erklärt, dass Alltagsmasken das relative Risiko einer Infektion um etwa 80 Prozent senken.

Immer mehr Menschen sorgen sich um ihre Gesundheit

Wer die Warnzeichen nun auf die leichte Schulter nimmt oder gar aus Überzeugung keine Maske mehr trägt, der gefährdet damit nicht nur sein Umfeld – er fährt auch mit der Superspreader-Bahn zielsicher Richtung Lockdown Nummer zwei. Dass dies kein ausgedachtes Szenario ist, zeigen nicht zuletzt die Fälle Gütersloh und Warendorf.

Mit meinen Befürchtungen bin ich übrigens nicht der Einzige. Eine aktuelle Umfrage des ZDF-”Politbarometers” hat ergeben: Viele Deutsche sorgen sich heute mehr um ihre Gesundheit als noch zu Beginn der Krise. 900 tägliche Corona-Fälle – so viel gab es auch am 14. März, ganz zu Anfang der Pandemie. Kurz darauf stiegen die Zahlen täglich rasant an.

Ziehen wir die Maske über die Nase und hoffen wir darauf, dass es noch nicht zu spät ist.

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