Sexroboter – Das Geschäft mit der künstlichen Liebe
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Lebensechte Puppen, die immer Lust haben – und niemals schlechte Laune: Sehen so die Beziehungen der Zukunft aus?
© Quelle: imago
Hannover. Sie sieht aus wie eine Mixtur aus Kim Kardashians Schwester Khloé und einer Schaufensterpuppe. Smaragdgrüne Silberblick-Augen, Stupsnase, Lippen wie Fahrradschläuche, die leicht geöffnet sind und nichts anderes können als glänzen.
„Harmony“, so heißt der Prototyp der kalifornischen Sexroboterschmiede Realbotix, ist nicht nur eine lebensgroße Gummipuppe mit Turbobrüsten und haarlosem Venushügel. Sie kann sprechen, zuhören und Berührungen spüren.
Sie kann ihren Kopf zur Seite legen und ihrem Gegenüber tief in die Augen blicken und im nächsten Moment schüchtern zu Boden gucken. Ihre Stimmung kann sich im Laufe des Tages verschlechtern oder aufhellen, sie kann müde oder hungrig sein oder Lust haben, Lust auf Sex.
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Silikon gewordener Männertraum: „Harmony“ aus der kalifornischen Sexroboterschmiede Realbotix lässt sich per Smartphone steuern.
© Quelle: realbotix
„Harmony“ ist der Silikon gewordene Traum von Männern, die so was wollen und es sich leisten können. Das stereotype Engelsgeschöpf ist ein Roboter, der sich mittels künstlicher Intelligenz (KI) verhalten kann wie ein Mensch, zumindest annähernd. Es klingt erst einmal schauerlich: Wie die KI-Puppe drauf ist, welchen Charakter sie zeigt, ob sie fröhlich, temperamentvoll, schüchtern oder eifersüchtig ist, lässt sich steuern, stufenlos via Smartphone oder Tablet.
Dann kann die Puppe antörnend sein („Ich könnte jetzt wirklich einen Sex on the Beach vertragen“) oder sich zieren („Versteh mich bitte nicht falsch, Christian, aber ich bin nicht die Sorte von Mädchen ...“). Sie kann aber auch über Essen, Filme und Fußball sprechen, wenn das gewünscht ist.
Nachfrage nach Männern wächst
Tausende solcher Gummi-Maide hat Realbotix nach eigenen Angaben schon an den Mann gebracht. Mit 10 000 bis 18 000 Dollar kosten sie so viel wie ein Kleinwagen und werden in Holzkisten verschickt, die an Särge erinnern.
Auch männliche Sexroboter produziert die Firma mittlerweile, ihr Umsatz macht 10 bis 15 Prozent aus, die Nachfrage wächst. Realbotix-Gründer und Chefentwickler Matt McMullen will mit den menschlichen Maschinen „eine Illusion aus Interaktion und Konversation“ geschaffen haben, die die Bedürfnisse von Menschen erfüllt, die keinen passenden Partner finden, sagt er.
Noch ist es eine Nische, noch sitzen die Hersteller zumeist in den USA und in Asien. Doch der Markt für die neue Generation der interaktiven Sexpuppen wächst. Sogar Bordelle mit Liebesdienern aus Silikon gibt es bereits – auch hierzulande. Barcelona war Vorreiter, in Dortmund wirbt das „BorDoll“ mit „absolut realistisch gearbeiteten Silikon-Liebespuppen“, es hat neuerdings auch „Diego“ im Angebot, der weibliche Kunden mit Satin-Bademantel empfängt. Jüngst öffnete im schwäbischen Freiberg ein Puppenpuff und zog den Zorn der Sittenwächter auf sich.
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Auch die Nachfrage nach männlichen Sexrobotern wächst.
© Quelle: realbotix
Offenbar ist die Vorstellung, eine Art von Sex mit einem Roboter zu haben, aber gar nicht so abwegig. Laut der Zukunftsstudie „Homo Digitalis“ von Arte, BR, ORF und dem Fraunhofer Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation würde gut jeder fünfte Deutsche gerne einmal einen Sexroboter ausprobieren. Über die Hälfte würde es nicht oder nur vielleicht stören, wenn ihr Partner Sex mit einem Roboter hätte. Nur 6 Prozent der Befragten können sich dagegen vorstellen, sich in einen Roboter zu verlieben. Noch.
Bisher wirken die Damen und Herren aus Silikon recht ungelenk, ihre Stimmen sind künstlich, der Mund wabbelt unappetitlich beim Sprechen, und im Bett sind die Gummigenossinnen und -genossen vor allem eines: passiv. Doch immer mehr Hersteller tüfteln an immer realistischeren Modellen.
Lebensechte Puppen, die alles mit sich machen lassen
Dabei soll es nicht nur beim emotionslosen Akt bleiben, wie Schöpfer McMullen hofft. Seine Vision, sagt er, sei viel größer. „Die neue Technologie wird Mensch und Maschine ermöglichen, miteinander zu leben und zu interagieren.“ So wollen die Produzenten ihren Puppen am Ende so viel Leben einhauchen, dass sie ihren realen Partner scheinbar zurücklieben, alles mit sich machen lassen – und alles machen.
Der Prototyp des perfekten Partners verfügt demnach nicht nur über die gewünschten Maße und Eigenschaften. Bestenfalls kümmert er sich auch um den Haushalt und um die Pflege, wenn’s mal nicht mehr so klappt. Und das ohne Murren.
„Man kann sagen, dass die Sexindustrie somit die Entwicklung von interaktiven Robotern vorantreibt“, konstatiert Iris Phan, Wissenschaftlerin an der Leibniz-Universität in Hannover. Die IT-Rechtsexpertin forscht zusammen mit ihrem Kollegen, dem Wirtschaftsethiker Florian Krause von der Universität St. Gallen, über die Auswirkungen der Sexmaschinen-Ausbreitung. Sie sind längst gefragte Podiumsgäste: „Das Thema polarisiert, wo wir hinkommen, gibt es eine riesige Aufmerksamkeit“, sagt Phan.
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Besuch am Institut für Arbeitswissenschaft zum Thema Sexroboter mit Wirtschaftsethiker Florian Krause und IT-Rechtsexpertin Iris Phan.
© Quelle: Michael Wallmüller
Aus der zunehmenden Verbreitung der Puppen ergeben sich immer neue Fragen, sowohl ethische und rechtliche als auch gesellschaftliche und philosophische, haben die Forscher festgestellt. Verändern Sexroboter unsere Idee von Sex?
Helfen sie Menschen, ihre Sexualität auszuleben, oder führen sie in die Einsamkeit? Dürfen Menschen alle ihre Fantasien an den Maschinen ausleben? Und was passiert, wenn sich der Mensch mit einer Puppe an der Seite auf einmal wohler fühlt als mit anderen Menschen? Was wird aus der Liebe?
„Es ist viel zu früh, um sich ein Urteil zu erlauben“, sagt Phan und warnt vor einer Tabuisierung. „Wir brauchen eine sachliche Debatte und mehr Forschung, bevor wir die Sexroboter bewerten.“ Dabei müsse man sich auch vorhalten, dass Sex mit Robotern nicht merkwürdiger ist als vieles andere.
Sinnbild der KI-Gegner
Schon jetzt ist eine kleine Maschine, das Smartphone, zu einem ständigen persönlichen Begleiter geworden, der sich um unsere täglichen Bedürfnisse kümmert. Es dient als Sekretär, verwaltet unsere Termine und erinnert uns an Geburtstage. Es sorgt dafür, dass wir mit unseren Freunden in Kontakt bleiben und es vertreibt uns die Zeit – beim Arzt im Wartezimmer und auf der Toilette.
Wir vertrauen ihm intime Bilder und Erinnerungen an, viele nutzen es, um mittels Dating-Apps Flirts und One-Night-Stands zu verabreden, oder als Steuerungsinstrument für Sexspielzeuge. In gewisser Hinsicht vereint ein Sexroboter Smartphone, Internet-Assistenten wie Alexa und Sexspielzeuge wie Vibratoren. Damit könne er sowohl ein unterhaltsamer Zeitvertreib sein als auch Ersatz für soziale Interaktion mit anderen Menschen.
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Nicht nur ein Thema in „Westworld“: Ryan Gosling lebt in „Lars und die Frauen“ mit einer Puppe zusammen.
© Quelle: Verleih
Die potenzielle Zielgruppe ist also beachtlich: In einer Studie der Universität Duisburg-Essen gaben kürzlich 40 Prozent von 263 befragten Männern an, sie könnten sich vorstellen, eine Roboterfrau zu kaufen. Die KI-Puppen könnten der Tech-Branche einen neuen Boom bescheren. In der beliebten US-Serie „Westworld“ ist das Szenario bereits Realität: Menschen leben ihre sexuellen Fantasien mit Robotern aus, die so perfekt sind, dass sie kaum noch als Maschinen erkennbar sind.
Auch in der Realität gibt es skurrile Vorgänge, Saudi-Arabien hat im Jahr 2017 „Sophia“ die Staatsbürgerschaft ausgestellt, einer Roboterpuppe, die Audrey Hepburn nachempfunden ist. Ein Marketing-Gag, der Diskussionen auslöste. Denn gleichzeitig müssen Frauen in Saudi-Arabien verschleiert auf die Straße gehen.
Kampf gegen Versklavung
Die britische Anthropologin Kathleen Richardson kämpft indes mit aller Kraft für ein Verbot der KI-Sexpuppen. Richardson kritisiert, dass Sexroboter auf der Idee basierten, Eigentum zu sein. „Sie sind so programmiert, dass sie immer gehorchen und nur darauf aus sind, männliche Lust zu befriedigen“, sagt die Professorin für Roboterethik und Gründerin der „Campaign Against Sex Robots“.
Mit den durchoptimierten Puppen würden Frauen zu Objekten degradiert. Das Verhältnis sei sklavenähnlich, Sex mit Robotern basiere nicht auf gegenseitiger Einwilligung. Sex sei mehr als nur die Vereinigung zweier Körper, argumentiert Richardson. Sie sieht auch eine gegenseitig verstärkende Wirkung zwischen Online-Pornografie und sexueller Ausbeutung.
Richardson befürchtet zudem, dass es durch menschliche Maschinen zu einer totalen Entfremdung und Vereinzelung der Menschen kommen kann. „In Japan ist dies schon traurige Realität“, sagt sie, „dort führen immer mehr Menschen Beziehungen mit Computerspielfiguren“. Die Hersteller reagieren gelassen auf solche Kritik. Realbotix-Chef McMullen etwa glaubt nicht, dass seine Puppen den Menschen schadeten. Diese seien im Gegenteil „nette, hilfsbereite Wesen, die Freund, Kompagnon und Partner in einem“ sein könnten, findet er.
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Aus dem Labor direkt ins Bett: Produktion einer Realbotix-Puppe.
© Quelle: realbotix
Die Werbefilme des Sexroboterherstellers vermitteln allerdings nicht den Eindruck, man würde dort viel Wert auf große Herzen und helfende Hände legen. In der Produktionsstätte im kalifornischen San Marcos hängen die fertigen Silikon-Körper auf Kleiderstangen – ohne Kopf und ohne Grenzen, zumindest was ihre Geschlechtsteile angeht. Rundherum türmen sich die „Bausteine“ wie auf Verkaufstischen im Warenhaus. Die Körper kommen vom Fließband. Sie verfügen über die immer gleichen Idealmaße und möglichst viel Beweglichkeit.
„Wir bauen anatomisch korrekte Skelette“, betont McMullen im Video. „Unsere Puppen können jede Position einnehmen, die Menschen auch einnehmen können.“ Ansonsten kann sich der Kunde nahezu alles aussuchen, Alter, Geschlecht und Körperform, er kann zwischen hellgrünen, dunkelbraunen oder regenbogenfarbenen Augen wählen, zwischen heller oder dunkler oder schwarzer Haut, sogar, in welcher Farbe die Glossy-Lippen schimmern sollen. Manche Hersteller bieten gegen Aufpreis Puppen mit simuliertem Herzschlag, warm werdender Haut, vibrierenden Vaginas.
Kein Schnarchen, kein Pupsen, kein Kopfweh
Im Kopf ticken jedoch alle Puppen gleich, eine Mechanik steuert Mimik und Gestik, mithilfe von zwei Minikameras hinter den Augen kann die Puppe ihrem Gegenüber folgen. Die KI-Software sorgt für jene Sprach- und Lernfähigkeit, die es dem Käufer erlaubt, die Eigenschaften seines Wunschpartners beliebig zu regeln. Störende Merkmale fehlen, kein Schnarchen, kein Pupsen, kein Kopfweh, dafür eine grenzenlose Ausdauer beim Sex.
Kritiker befürchten, dass so ein Sexroboter das Problem unrealistischer Körpernormen und irreführender Sexvorstellungen noch einmal vorantreiben könnte. Es könnte sein, dass die Dating-App-verwöhnte „Generation Beziehungsunfähig“, wie sie der Berliner Autor Michael Nast in seinem gleichnamigen Buch propagiert, auf der Suche nach dem perfekten Partner noch kompromissloser wird.
Ethikforscher Krause glaubt das nicht. „Der Sexroboter wird nie einen menschlichen Partner vollständig ersetzen können – nicht mal im Bett“, sagt er. „Was eine Beziehung ausmacht, sind Reibungspunkte und überraschende Reaktionen – alles andere könnte sehr schnell langweilig werden.“
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Die meisten Menschen sehen Sexroboter der Studie zufolge lediglich als weiterentwickeltes Sexspielzeug.
© Quelle: realbotix
Krause und seine Kollegin Phan gehen aber davon aus, dass Menschen mit sexuellen Problemen sehr wohl vom Einsatz der Maschinen profitieren könnten. Das gelte sowohl für Menschen mit Behinderungen als auch für Bewohner von Pflegeeinrichtungen und Altenheimen. „Wir blenden häufig aus, dass es Menschen gibt, die nicht die Möglichkeit haben, ihren sexuellen Bedürfnissen nachzugehen“, sagt Phan.
Die Bundesregierung hatte das Thema jüngst auf eine Kleine Anfrage der FDP-Fraktion zur KI nur knapp beantwortet. So sollen Sexroboter als medizinisches Therapiegerät auch in Zukunft nicht von den Kassen bezahlt werden. Die gesetzliche Krankenversicherung sei dazu da, die Gesundheit der Versicherten zu verbessern – „es ist nicht ersichtlich, wie sogenannte Sexroboter zur Erfüllung dieser Aufgabenstellung beitragen könnten“. Damit sei die Debatte einfach abgewürgt worden, finden die Forscher.
Mittel gegen Sexverbrechen?
Wie sie sieht auch der im vergangenen Jahr veröffentlichte Report „Our sexual future with robots“ einen therapeutischen Nutzen von Sexrobotern. Für ihren Bericht werteten die Forscher die Argumente von Roboterexperten sowie Umfragen aus den USA, Großbritannien, Deutschland und den Niederlanden aus. Sie beschäftigten sich auch mit der Frage, ob Sexverbrechen durch das Vorhandensein von Sexrobotern reduziert werden könnten.
Einig sind sich die Experten darüber nicht. Manche sind der Meinung, dass potenzielle Sextäter Vergewaltigungsfantasien und krankhafte Neigungen wie Pädophilie eher an Robotern auslassen würden statt an menschlichen Opfern. Andere sehen die Gefahr, dass durch die „Übungen an der Puppe“ Hemmschwellen herabgesetzt würden und das Verhalten verstärkt würde.
Die meisten Menschen sehen Sexroboter der Studie zufolge lediglich als weiterentwickeltes Sexspielzeug. So könnte es sein, dass sie einmal den Vibrator in der Schublade ersetzen – vorausgesetzt, die Preise sinken und die soziale Akzeptanz wächst. Zunächst aber bleibt die intime Interaktion mit „Harmony“ und „Diego“ für viele eine Gruselvorstellung. Denn wer einmal einen Blick ins Innere der Puppen geworfen hat, der muss zwangsläufig an Sex mit Frankensteins Monster denken.
„Die Technik macht es schwieriger, die Einzigartigkeit eines Menschen zu erkennen“
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Die Soziologin Eva Illouz ist Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ihr aktuelles Buch „Warum Liebe endet. Eine Soziologie negativer Bedingungen“ (447 Seiten, 25 Euro) ist im Oktober im Suhrkamp-Verlag erschienen.
© Quelle: Kobi Wolf
Frau Illouz, in Ihrem Buch „Warum Liebe endet“ schreiben Sie, dass unsere heutige Zeit durch negative Beziehungen geprägt ist. Steht es um unsere Partnerschaften wirklich so schlecht?
Ich meine „negativ“ hier nicht in der Art, wie wir es im normalen Sprachgebrauch als Gegensatz zu positiv oder als etwas moralisch Verwerfliches verwenden. Sondern ich meine es im doppelten philosophischen Sinne als etwas, das unbestimmt ist, dessen Natur nicht festgelegt ist, etwas, das keine fixen oder erkennbaren Eigenschaften hat. Außerdem bezeichnet „negativ“ etwas, das nicht mehr richtig arbeitet. Die Erfahrung des Negativen bricht aus, wenn etwas zusammengebrochen ist. Wenn Dinge in unserer Umgebung nicht mehr funktionieren, dann müssen wir ihnen neue Aufmerksamkeit schenken. Genau das tun wir derzeit mit unseren Beziehungen: Wir schenken ihnen eine sehr starke und sorgfältige Aufmerksamkeit, weil irgendetwas in ihnen nicht ganz funktioniert.
Was stimmt mit den modernen Beziehungen denn nicht?
Ich mag es nicht, in Kategorien von „falsch“ und „richtig“ zu denken. Aber ich würde sagen, soziologisch ist das Problem mit intimen Beziehungen, dass sie mit Unsicherheit gesättigt sind. In der Ära der Brautwerbung waren die Regeln für eine Beziehung ziemlich klar. Heute sind wir uns nicht sicher, was der Zweck einer Interaktion ist, wir sind uns unsicher, welche Regeln sie hat.
Man weiß nach einem Treffen nicht, ob es überhaupt ein Date war, was das Ziel ist: Sex, eine Beziehung ...
Jeder, der in den vergangen 30 Jahren auf einem Date war, weiß, wovon ich spreche. Ein anderes Beispiel für Ungewissheit ist, wenn man in einer Beziehung ist, aber nicht sicher ist, was man selbst oder der andere fühlt oder erwartet und nicht erwartet. Diese enorme Unsicherheit, die heutzutage ein Merkmal von Beziehungen ist, ist meiner Meinung nach auch der Grund, warum Selbsthilfeliteratur so verbreitet ist.
Wie sind wir hier gelandet?
Wenn ich das wichtigste historische Ereignis wählen müsste, dann würde ich sagen, es war die sexuelle Revolution. Sie war – das möchte ich betonen – nötig und willkommen, weil die vorhergehende Ära auf der sexuellen Ausbeutung von Frauen und der tiefen Ungleichheit zwischen Männern und Frauen im Bereich des Sexuellen basierte. Aber die sexuelle Revolution hat die Heirat und Sexualität aus dem Reich der Religion entfernt. Sie hat Sex in sich selbst legitimiert – und so dem Markt untergeordnet. Sexualität und sexuelles Verhalten wurden mehr und mehr zum Konsumentenverhalten.
Inwiefern?
Wie wir über Attraktivität nachdenken, wird durch Konsum vermittelt und geprägt. Wie wir darüber nachdenken, einen Partner auszuwählen oder loszuwerden, wird dem Konsum nachgeahmt. Die Menschen denken daran, im Bezug auf gemeinsam Verbraucherwahlen kompatibel zu sein. In zunehmendem Maße sehen sie Veganer auf der Suche nach Veganern. Das ist eine Möglichkeit, um Intimität als durch Freizeit und Konsum vermittelte zu verstehen. Oder auch Menschen treffen sich immer mehr in Räumen des Konsums. Bars, Discotheken, aber auch Tinder sind Arenen des Konsums. Die Konsumkultur rechtfertigt auch die schnelle Entsorgung von Objekten oder Mode. Sie prägt die grundlegenden Denk- und Gefühlsweisen in sexuellen und romantischen Beziehungen. Ich würde sagen, das Gleiche gilt für sexuelle Begegnungen.
Sie sprechen von spontanem Sex?
Hook-ups sind ein Symptom, eine Manifestation davon, ja. Nach dem spontanen Sex kann man jemanden sehr schnell wieder loswerden, nachdem man ihn „konsumiert“ hat. Gleichzeitig bleibt aber die Erwartung sehr hoch, eine stabile, dauerhafte Liebesbeziehung zu führen. Doch die Umstände, das einzulösen, sind immer seltener gegeben.
Werden die Menschen unglücklicher?
Das untersuche ich nicht, diese Daten habe ich nicht. Ich denke nicht, dass die vormodernen Ehen, in denen Männer und Frauen in ihre starren Rollen feststeckten, das Ideal sind, an dem wir uns orientieren sollten. Ich würde allerdings sagen, dass Ungewissheit inkompatibel mit einem Gefühl von Sicherheit ist. Der Grund, warum wir uns mehr nach Ehen und festen Beziehungen sehnen, ist, dass sie uns ein Gefühl von sozialer Sicherheit geben, das wir in der Politik oder Wirtschaft nicht finden. Nur findet sich im Privaten eben nicht weniger Ungewissheit als im Bereich des wirtschaftlichen Markts – sondern das Private wird direkt durch ihn geformt. Ungewissheit ist immer häufiger im Modus des Umgangs in Beziehungen.
War das nur durch Technik möglich?
Technologie hat diese Situation nicht geschaffen, aber sie hat sie absolut verstärkt und dadurch etwas Neues geschaffen. Grindr oder Tinder haben Sex so verfügbar gemacht wie nie zuvor. Sie haben dazu beigetragen, Sex aus der Umhüllung der Sünde, Moralität und religiösen Verbote zu befreien. Sie haben die sexuelle Revolution vervollständigt. Doch wenn man davon ausgeht, dass die romantische Liebe es ermöglicht, einen Menschen auszuwählen und sie oder ihn einzigartig zu machen, dann sorgt die Technologie genau für die gegensätzlichen Bedingungen. Sie macht jeden austauschbar, macht es viel schwieriger, die Einzigartigkeit von jemandem zu erkennen.
Von Sonja Fröhlich