Sonderrechte für Superstars? Der Fall Djokovic, die Politik und die Arroganz des Spitzensports
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Novak Djokovic.
Versetzen wir uns kurz in den Kopf von Novak Djokovic. Wir sind 34 Jahre alt und der erfolgreichste Tennisspieler der Welt. Wir haben neunmal die Australian Open gewonnen, sechsmal Wimbledon, dreimal die US Open und zweimal die French Open.
Wir sind der serbische Spitzensportler schlechthin, geliebter Held in der Heimat, Multimillionär und Superstar. Und dann stehen wir am Flughafen in Melbourne vor einem australischen Einwanderungsbeamten, der unser Visum und den Reisepass einkassiert und trocken mitteilt: „Mr. Djokovic, eine frühere Infektion mit COVID-19 gilt in Australien nicht als medizinische Kontraindikation für eine COVID-19-Impfung.“
Zutritt verweigert.
Das muss schmerzen. Da fliegst du viele Stunden nach Süden in der tiefen Überzeugung, vielleicht nicht Gottes Geschenk an die Menschheit, aber doch wenigstens ein Gewinn für jedes internationale Tennisturnier zu sein. Aber statt als gefeierter „Djoker“ und sakrosankter Superstar mit einer Ausnahmegenehmigung des australischen Tennisverbands und des Bundesstaates Victoria für ungeimpfte Starathleten bis zum Turnierstart in einem Fünf-Sterne-Palast zu logieren, stecken dich irgendwelche Grenzbürokraten für Tage in ein tristes Hotel, wo du mit anderen Abschiebekandidaten auf deine Ausreise warten sollst.
Es muss sich anfühlen wie eine massive Kränkung. So massiv, dass Djokovics Vater in patriotischer Überzuckerung seinen Sohn mit dem Gladiator Spartacus oder gleich mit Jesus Christus verglich: „Jesus wurde gekreuzigt, und er ertrug es“, zürnte Srdjan Djokovic in Belgrad. „Jetzt versuchen sie, Novak auf die gleiche Weise zu kreuzigen.“
Am Montag gab ein australisches Gericht dem Einspruch des 34-Jährigen gegen die Annullierung seines Visums aus formalen Gründen recht: Djokovic sei nicht genug Zeit zugestanden worden, sich zu den Vorwürfen zu äußern. Ob der Titelverteidiger aber tatsächlich auch als Ungeimpfter an den Australian Open teilnehmen darf, die am 17. Januar beginnen, steht noch nicht fest. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer multinationalen Posse.
Es ging im Fall Djokovic von Beginn an nicht bloß um Fragen von Impfstatus, Einreiseregeln und Kompetenzgerangel. Es ging und geht um Politik und Nationalismus, um Wahlkampf, Stolz und die Arroganz des Sports. Es geht um die sich weiter beschleunigende Entfremdung des Paralleluniversums vieler Spitzenathleten und -funktionäre von den Lebensrealitäten ihrer pandemiemürben Zuschauer, die sich die Augen reiben angesichts der Sonderrechte für Superstars, während sie selbst ihre Kinder mit Mundschutz in die Schule schicken, ihre Cafés und Läden schließen und die letzten Groschen zusammenkratzen mussten.
Es geht schlicht um die Frage, ob allgemeine Regeln auch für millionenschwere Entertainer gelten, die es gewohnt sind, Sonderrechte für sich in Anspruch zu nehmen, gleichzeitig aber Vorbild für Millionen sind.
Wieder einmal kristallisiert sich an einem Star des Sports die ganze pandemische Erregung, wie zuletzt schon im Fall des ungeimpften Bayern-München-Spielers Joshua Kimmich. Seit Monaten irritierte Djokovic mit impfskeptischen Äußerungen. Im November schalt er über die Pandemie: „Es wird Propaganda verbreitet, die den Eliten oder einer bestimmten Gruppe von Menschen passt.“
Er lehne die Impfung ab („Ich habe meine eigenen Gedanken zu der Angelegenheit“), glaube an die „Selbstheilung des Körpers“ und gab allerhand Rätselhaftes zur Kenntnis – etwa die Überzeugung, dass sich vergiftetes Wasser mit reiner menschlicher Willenskraft in sauberes verwandeln lasse. Seine Frau postete jüngst bei Instagram ein Video des US-Arztes Thomas Cowan, der an einen Zusammenhang von 5G-Mobilfunkmasten und der Corona-Pandemie glaubt.
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Fans des serbischen Tennisspielers Novak Djokovic feiern vor dem Hotel für Ausreisepflichtige, in dem Djokovic untergebracht ist.
© Quelle: Mark Baker/AP/dpa
Nun steht es auch Spitzensportlern frei, sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Wer wollte das untersagen? Ihrer Vorbildfunktion jedoch werden sie kaum gerecht, wenn sie, statt dann auch mit den Konsequenzen ihrer Entscheidung zu leben, trotzdem Sonderrechte für sich in Anspruch zu nehmen versuchen. Den Turnierveranstaltern und Offiziellen in Victoria erschien eine Teilnahme von Djokovic am 2G-Turnier in Melbourne offenbar wichtiger für die Attraktivität ihres Events als die Einhaltung des Prinzips „gleiches Recht für alle“. Erst die Zentralregierung intervenierte.
Die Nerven liegen blank. Der serbische Präsident Aleksandar Vucic, politischer Ziehsohn des Gewaltherrschers Slobodan Milosevic, sprach von „Hexenjagd“ und „Verfolgung“ und nutzte die Gelegenheit, Serbien drei Monate vor den nächsten Wahlen als Opfer westlicher Machenschaften zu stilisieren. Belgrader Zeitungen verglichen Djokovics Hotelzimmer mit einem mittelalterlichen Verlies. Ins selbe Horn stieß Djokovics Vater: „Wir sind stolze Menschen. Sie können uns nicht brechen“, donnerte er. „Novak ist Serbien, und Serbien ist Novak!“
Sein Sohn sei nicht weniger als die „Personifikation der Freiheit“. Er werde „kämpfen wie wir, und wie wir Serben zusammen mit dem ganzen Balkan“. Der australische Premierminister Scott Morrison hingegen wollte an Djokovic offenbar ein Exempel statuieren, nachdem sein Corona-Management in der Heimat massiv in die Kritik geraten war.
Warum eskalierte der Fall derart? Die Gründe reichen tiefer als bis zu der Frage, wie ein exzentrischer Tennisstar, dem sein früherer Trainer Boris Becker in der „Daily Mail“ einen gewissen „Hang zur Sturheit“ attestierte, zum Märtyrer für Impfskeptiker wurde. Oder wer wann wen möglicherweise falsch informiert hat. Der „Tenniskrieg“ konterkariert endgültig das schale Mantra mächtiger Sportfunktionäre, im Sport gehe es keineswegs um Politik oder Kommerz, sondern allein um den edlen Wettstreit, das Wohlergehen der Menschheit und den Weltfrieden. Was für ein Irrtum.
Die internationale Sportwelt gab schon vor Corona kein gutes Bild ab. Seit Jahren entfremdet sich der Kommerzsport, insbesondere der Marktführer Fußball, von den Lebensrealitäten seiner Zuschauer. Gerade hat der Premier-League Club Manchester City in seinem Stadion 1100 Zuschauerplätze abgebaut, um die LED-Werbebande zu vergrößern. Weniger Publikum, mehr Werbemillionen. Ein besseres Symbol für die Prioritäten des Vereins lässt sich kaum finden. „Es wird im Profifußball schon lange ausschließlich nach ökonomischen Maßstäben operiert“, sagte der Würzburger Sportwissenschaftler Harald Lange dem Magazin „11 Freunde“ und dem ZDF. Die Folge: „Die Fans wenden sich ab.“
Das hat klimatische Gründe. Das ungute Gefühl, der Sport entwickle sich von einer fröhlichen Sinnmaschine zu einer eiskalten Geldmaschine, wächst. Nicht wenige Zuschauer entfernen sich lieber innerlich, als zu gefühlten Kollaborateuren eines kaputten Systems zu werden. Denn die moralischen Defizite zahlloser Spitzenfunktionäre sind für jeden ersichtlich. Die Fifa (und der FC Bayern München) paktieren in Katar mit Despoten. Das IOC vergab die Olympischen Winterspiele in die Quasidiktatur China.
Und hätte Peking bei der Abstimmung nicht mit vier Stimmen vorne gelegen, hätten die Spiele Anfang Februar tatsächlich in Almaty in Kasachstan begonnen – im Land des Autokraten Qassym-Schomart Toqajew also, der seine protestierenden Landsleute in diesen Tagen von Polizeikräften zusammenschießen lässt.
„In der Pandemie ist die Sehnsucht nach Gerechtigkeit und solidarischem Verhalten weiter gestiegen“, sagt Sportforscher Lange. Dem gegenüber stehe „der Zirkus des Profifußballs, der zunehmend in einer Luxusblase lebt und im Großen und Ganzen nur ein Ziel hat – so viel Geld wie möglich zu machen“. Die Werte der Fans würden „voreilig geopfert, obwohl sie den wirklichen Wert des Fußballs ausmachen“.
Langes These: „Ohne Fans in den Stadien fehlte die kritische Kontrollinstanz für die Klub- und Verbandschefs. Ohne lautstarke Proteste in den Stadien gegen die schlimmsten kommerziellen Auswüchse fürchten zu müssen, sind aberwitzige Projekte vorangetrieben worden. So wird der Riss zwischen Basis und Establishment immer größer. Die Pandemiezeit hat diesen Trend noch verstärkt. Sehr viele aktive Fans haben inzwischen die Hoffnung verloren, dass ihre Stimmen gehört werden“, sagt Lange. „Da herrscht viel Enttäuschung. Die Leute fühlen sich veräppelt.“
Das gilt für den Fußball genauso wie für den Tenniszirkus oder Olympia. „Das IOC hat kein politisches Mandat“, pflegt IOC-Chef Thomas Bach gern zu betonen, so wie schon jeder seiner Amtsvorgänger. Das mag formal stimmen – unpolitisch ist der Sport aber noch lange nicht. Genauso wenig, wie Olympia natürlich nicht unkommerziell ist. Bachs Beharrlichkeit beim Versuch, die Mär vom stets neutralen Friedensbringer Sport aufrecht zu erhalten, grenzt an Ignoranz.
Im Fall der verschwundenen chinesischen Tennisspielerin Peng Shuai etwa, die einem hochrangigen Sportfunktionär und Parteikader sexuellen Missbrauch vorgeworfen hatte, genügte ihm ein 30-minütiges Telefonat mit Peking, um sich davon überzeugen zu lassen, es sei keineswegs verdächtig, wenn Shuai erst tagelang verschwindet und dann plötzlich mitteilt, sie habe niemals irgendwelche Vorwürfe erhoben. Das gemahnt fatal an Franz Beckenbauer und seine naiv-zynische Aussage, er habe beim Besuch des WM-Gastgeberlandes Katar „nicht einen einzigen Sklaven“ gesehen, also alles prima. Kritik am wackeligen Moralkodex ficht die Herren nicht an, so lange der Rubel rollt.
Es sind die Athleten, denen diese Bigotterie auf die Füße fällt. Denn sie sollen plötzlich Fragen beantworten, auf die sie nicht vorbereitet sind, weil ihre Funktionäre die Zurkenntnisnahme der Wirklichkeit verweigern. Tatsache ist: Sport ist Politik. Und beides nützt einander.
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Gazprom ist Hauptsponsor des FC Schalke 04.
Warum sonst genoss die Bundesliga in der Frühphase der Pandemie Privilegien, die in anderen Branchen undenkbar waren? Warum sonst läuft bei jedem Heimspiel des FC Schalke 04 in der Veltins-Arena Werbung für das umstrittene Pipeline-Projekt „Nord Stream 2″ des nicht minder umstrittenen Hauptsponsors Gazprom? Warum sonst sagte der Chef des australischen Tennisverbands schon vor den Australian Open 2021 mit Blick auf erleichterte Quarantänebestimmungen für Starspieler, es sei eine „generelle Regel“ und „die Natur des Geschäfts, dass du, wenn du zur Spitze des Spiels gehörst und ein Grand-Slam-Champion bist, einen besseren Deal bekommst“? Warum sonst durften noch 50.000 Zuschauer im Kölner Stadion gemeinsam singen und jubeln, als der Rest der Republik längst schon wieder auf eine gemeinsame Kraftanstrengung im Kampf gegen Corona eingeschworen wurde?
In Corona-Zeiten pochte der Sport auch mit dem bescheidenen Hinweis auf Sonderrechte, er könne in Ausnahmezeiten schließlich ein Stück Normalität und Ablenkung liefern. Das klingt rührend. In Wahrheit ging es natürlich ums Geschäft. Korrektheit, Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit aber sind ausgerechnet in einer Branche, die auf dem Platz von der exakten Einhaltung allgemeingültiger Spielregeln lebt, jenseits des Platzes keine Tugenden.
Hinzu kommt: Es sind in diesen Zeiten nicht mehr sportliche Leistungen allein, die die Karrieren eines Athleten befeuern. Fast noch wichtiger sind Attraktivität, Präsenz in den sozialen Medien, ein cleveres Spiel mit der Presse und die Fähigkeit, eine maximale Welle zu erzeugen. Insofern hat Djokovic unabhängig vom finalen Ausgang des Konflikts um seine Einreise in Fragen des Eigenmarketings alles richtig gemacht. Das mag der heimischen Klientel gefallen – der Jubel seiner Fans war groß nach dem Urteil des Gerichts. Dem internationalen Tennis aber erweist er einen Bärendienst.
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Denn Spitzensportler sind immer auch Botschafter ihrer Branchen und Länder. Sie sind nicht bloß Entertainer, Hundertstelsekundenjäger oder Kämpfer in eigener Sache. Wenn sie ihre gesellschaftliche Vorbildfunktion verweigern, haben sie ihre Profession missverstanden. Das führt am Ende zu nichts – außer der fortgesetzten Entfremdung zu den Menschen, ohne die sie gar nichts wären: ihren Zuschauern.