Sportmediziner: „Die Älteren sind deutlich fitter als vor 20 Jahren“
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„Es gibt auch im hohen Alter keine Leistungsgrenze“: Der Hamburger Hartmann Knorr bei den Deutschen Seniorenmeisterschaften 2020 in Zella-Mehlis.
© Quelle: Getty Images for SPIEGEL Magazin
Leipzig. Wie stark lässt die Leistung im Alter nach? Wie sehr lässt sich der Rückgang bremsen – und wo liegen die Grenzen dessen, was gesund ist? Im RND-Interview erklärt der Leipziger Sportmediziner Prof. Georg Neumann, wie intensiv wir uns bewegen müssen, um davon zu profitieren.
Herr Neumann, der deutsche Rekord in der Altersklasse der über 80-Jährigen über 100 Meter liegt inzwischen bei 15,80 Sekunden. Der Läufer Hermann Beckering hat ihn am 10. Juli aufgestellt – und damit eine erst eine Woche alte Bestzeit um 0,66 Sekunden unterboten. Gibt es für die Älteren keine Grenzen?
Wir sehen tatsächlich, dass die meisten Bestleistungen in den höheren Altersklassen erst in den letzten fünf bis zehn Jahren aufgestellt wurden – und dass diese Rekorde proportional stärker verbessert werden als die absoluten Rekorde. Auch die alternden Sportlerinnen und Sportler haben da einen immer stärkeren Ehrgeiz, besser zu sein als andere gleichaltrige Athleten. Die Älteren sind deutlich fitter als vor 20 Jahren.
Wie schnell können sie denn werden?
Es gibt auch im hohen Alter keine Leistungsgrenze. Das heißt: Wir sehen auch bei den Älteren keine Rekorde, die nicht prinzipiell noch verbessert werden könnten. Es wurden ja auch in anderen Sportarten als dem Laufen in letzten Jahren immer weitere bemerkenswerte Leistungen aufgestellt. Denken Sie zum Beispiel an den 105-jährigen französischen Radfahrer, der auf der Bahn einen Weltrekord von 22,547 Kilometern über eine Stunde fuhr. Wegen ihm wurden die Altersklassen offiziell auf 105 erhöht.
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Der Sportmediziner Georg Neumann, Jahrgang 1938, hatte bis 2003 den Lehrstuhl für Sportmedizin am Institut für Angewandte Trainingswissenschaft in Leipzig inne. Bis 2008 war er medizinischer Berater der Deutschen Triathlon Union.
© Quelle: privat
Aber wie sehr können sich die Älteren denn den Jüngeren annähern? Können sich die 70-Jährigen bald mit den 30-Jährigen messen?
Wenn sie mit Niederlagen leben können… Nein, im Ernst: Der Leistungsabfall im höheren Alter ist von der Entwicklung natürlich unberührt. Ab dem sechsten Lebensjahrzehnt sehen wir ihn deutlich, in allen Sportarten. Der wichtigste Grund dafür ist der Muskelschwund, die sogenannte Sarkopenie. Vor allem die schnell kontrahierenden Muskelfasern, die für die Schnellkraft zuständig sind, verschwinden.
Was sehr unschön klingt. Wie stark ist dieser Muskelschwund?
Mit 80 verfügt man im Schnitt nur über die Hälfte der Muskelmasse eines 40-Jährigen.
Und proportional sinkt auch die Leistung?
Wir sehen bei Männern wie bei Frauen ab 30 bis ungefähr 60 einen Leistungsabfall von einem bis 2 Prozent pro Jahr. Danach beschleunigt sich diese Entwicklung: Zwischen dem 65. und dem 85. Lebensjahr liegt der Rückgang bei rund 3 Prozent pro Jahr. Das alles spiegelt sich deutlich in der maximalen Sauerstoffaufnahme und der maximalen Herzfrequenz. Auch wenn Sie die Trainingsbelastung steigern, so sinkt die Laufgeschwindigkeit kontinuierlich und ist nicht mehr aufzuhalten.
„Empfehlenswert ist ein Mehrverbrauch von mindestens 2000 Kilokalorien“
Sehen Sie mir die Frage nach, aber: Was bringt dann Sport im höheren Alter?
Eine Menge. Bewegung ist das A und O, auch im höheren Alter. Sie dürfen nur keine falschen Erwartungen haben: Auch regelmäßiges Training kann den Prozess des Muskelabbaus nicht verhindern, aber man kann dennoch leistungsfähiger und gesünder bleiben. Die maximale Sauerstoffaufnahme sinkt bei Untrainierten wie auch bei trainierten Alterssportlern – bei letzteren allerdings erfolgt die Abnahme auf deutlich höherem Niveau. Auch das Einlagern von Fettdepots im Körper, zwischen 50 und 60 zum Beispiel im Schnitt rund 13 bis 15 Prozent, lässt sich durch regelmäßiges Training zum Beispiel halbieren.
Wie viel Sport ist denn im höheren Altern dann empfehlenswert?
Man muss für sich die richtige Dosis finden, das ist entscheidend. Um sowohl einen Trainings- als auch einen Gesundheitseffekt zu haben, also vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen vorzubeugen, ist ein Mehrverbrauch von mindestens 2000 Kilokalorien in der Woche empfehlenswert – unabhängig von der Belastungsart übrigens, auch Gartenarbeit zum Beispiel zählt dazu.
Und wo liegt die Grenze?
Beim Laufen 70 Kilometer in der Woche, beim Radfahren 300 Kilometer in der Woche und beim Schwimmen 16 Kilometer in der Woche nicht überschreiten. Das entspricht etwa acht bis zehn Stunden in der Woche. Die Grenze würde ich da bei 65 Jahren ziehen – danach schaffen es die meisten aktiven Sportler nicht mehr, an diese Empfehlungsnormen heranzukommen .
Erhöhte Gefahr für orthopädische Probleme
Und wenn man sie überschreitet?
Dann erhöht das die Gefahr für orthopädische Problem und auch die Anfälligkeit für Infekte.
Verstehe ich Sie richtig, dass Sie Leistungssport und Rekordjagden und höheren Alter kritisch sehen?
Da wäre ich tatsächlich zurückhaltend. Wer Freude daran hat und bestimmte Regeln beachtet, der möge es tun. Aber nötig ist es sicher nicht. Für die Gesundheit sind ständige Bewegung beziehungsweise dosierter Sport von etwa 150 Minuten in der Woche sowie gesunde Kost, zum Beispiel mediterrane Diätformen, bedeutsame Faktoren zur Vermeidung von Krankheiten oder vorzeitigem Ableben.
Wie viel Sport treiben Sie?
Ich bin 83 Jahre alt, mache regelmäßig meine Fünf-Kilometer-Nordic-Walking-Runde – und bin damit bester Dinge.