Überlebende berichten von Flucht aus einstürzendem Wohnturm bei Miami
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Trauernde besuchen eine Gedenkwand mit Blumen und Fotos in der Nähe des am 24.06.2021 eingestürzten Champlain Towers South Wohngebäudes. Nach dem Teileinsturz eines Wohnkomplexes haben die Behörden den Einriss des noch stehenden Gebäudeteils angekündigt. Die Sprengung der Ruine sei trotz des andauernden Bergungseinsatzes dringend notwendig, weil der verbleibende Gebäudeteil gefährlich instabil sei, sagte Gouverneur DeSantis am Samstag. Foto: -/kyodo/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
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Fort Lauderdale. Alfredo Lopez und seine Frau Marian wurden von einem lauten Krachen aus dem Schlaf gerissen. Kurz darauf folgte ein zweites, noch lauteres Geräusch, das ihre Betten im sechsten Stock zum Beben brachte. Alfredo weckte noch den 24-jährigen Sohn Michael, bevor er zum Balkonfenster rannte. „Alles was ich sah, war dichter weißer Staub. Ich konnte kaum das Balkongeländer erkennen“, sagt er.
„Es gab keinen Flur, keine Decke, keine Wohnungen, keine Wände, nichts“
Plötzlich gingen die Lichter aus. Ein Alarm forderte die Bewohner zum Verlassen des Gebäudes auf. Zwei Jahrzehnte hatte die Familie Lopez im Champlain Towers South gelebt. Ihr Apartment lag nicht zum Meer hin, sondern auf der Straßenseite. Das war ihr Glück. Als der 61-jährige Alfredo in jener Nacht die Wohnungstür öffnete, sah er, dass die andere Hälfte des Hauses verschwunden war.
„Es gab keinen Flur, keine Decke, keine Wohnungen, keine Wände, nichts“, sagt der Überlebende gut eine Woche nach dem Unglück in der Nähe von Miami. „Ich war vor Angst wie gelähmt. Ich dachte wirklich: Das war's. Wir werden sterben.“ Vom Boden des Treppenhauses vor ihm war aber immerhin noch ein schmaler Streifen übrig – gerade breit genug, um eine Flucht zu ermöglichen.
Mindestens 22 Todesopfer nach Hauseinsturz
Mindestens 22 Menschen kamen ums Leben, als ein Teil des Wohngebäudes einstürzte, mehr als 100 werden noch vermisst. Für diejenigen, die heute über die gefahrvollen Minuten der Katastrophe berichten können, war es ein Wettlauf gegen die Zeit. Über brüchige Treppen, die sich von der Wand gelöst hatten, liefen sie so schnell es ging nach unten. Einige halfen dabei Nachbarn, die sie noch nie gesehen hatten oder seit Jahren kannten. Sie alle seien „durch diese Tragödie jetzt für immer verbunden“, sagt Albert Aguero, der eine 88-jährige Frau in Sicherheit brachte.
Im ersten Stock machte sich der 25-jährige Gabriel Nir nach einem späten Fitness-Training gerade etwas zu essen. Der Rest der Familie wäre normalerweise längst im Bett gewesen. Seine 15-jährige Schwester war aber eben erst vom Babysitten zurückgekommen und stand unter der Dusche. Der Vater war verreist, die Mutter hatte eine Abendveranstaltung besucht. Als nach dem ersten lauten Krachen der Betonstaub durch die Terrassenfenster hereinströmte, lief Gabriel ins Badezimmer und schrie: „Wir müssen jetzt gehen!“
Zehn Stockwerke weiter oben starrte Aguero derweil fassungslos in die klaffenden Löcher im Aufzugsschacht. Die Hälfte der Nachbarwohnung war in die Tiefe gerissen worden. Gemeinsam mit seiner Frau, seiner 14-jährigen Tochter und seinem 22-jährigen Sohn machte sich der 42-Jährige zügig an den Abstieg. Jedes Mal, wenn sie wieder ein Stockwerk geschafft hatten, riefen sie sich gegenseitig die entsprechende Zahl zu – es waren Etappensiege auf dem Weg zum Überleben.
Überlebende sind dem Tod nur knapp entkommen
Als sie im fünften Stock angekommen waren, hörte Agueros Frau Janette ein Klopfen. Sie öffnete eine Tür und einige weitere Bewohner schlossen sich ihnen auf der Flucht durch das Treppenhaus an – darunter eine alte Frau, die mit den anderen nicht Schritt halten konnte. „Macht euch um mich keine Sorgen. Ich bin 88. Ich hatte ein gutes Leben“, sagte die Frau. Doch Aguero war entschlossen, niemanden zurückzulassen. „Wir werden sicherstellen, dass Sie auch noch 89 werden“, sagte er.
Im neunten Stockwerk kauerten Raysa Rodriguez und ihre Nachbarin Yadira Santos sowie deren zehnjähriger Sohn Kai in einem Flur. Sie hatten gesehen, dass eine Hälfte des Gebäudes eingestürzt war und gingen davon aus, dass auch das Treppenhaus verschwunden sei. Rodriguez dachte, dass sie warten müssten, bis die Feuerwehr komme, um sie mit Leitern vom Balkon zu retten. Inmitten des Chaos rief ihr Bruder Fred an, der zum Unglücksort gefahren war. „Kommt da raus, kommt raus“, drängte er sie. Sie argumentierte, dass es keinen Fluchtweg mehr gebe, weil das Treppenhaus zerstört sei. Schließlich übernahm ein Feuerwehrmann die Leitung und gab ein klares Kommando: „Sie müssen einen Weg nach draußen finden.“
Also wagten sie sich trotz allem noch einmal ins Treppenhaus hinaus. Im achten Stock wartete die 84-jährige Ada Lopez mit ihrem Gehwagen auf sie. Santos hatte sie angerufen und ihr Bescheid gegeben. Während die anderen der alten Nachbarin halfen, ging Rodriguez vor, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Als sie die durch zerbrochene Wasserleitungen überflutete Parkebene sah, machte sie kehrt. Sie habe gefürchtet, dass sie dort einen Stromschlag bekommen würden, sagt sie. Stattdessen ging die kleine Gruppe im zweiten Stock durch eine offen stehende Wohnung zu einem Balkon, von dem sie ein Rettungsteam in Sicherheit bringen konnte.
Die Überlebenden wissen, wie knapp sie dem Tod entronnen sind. Zugleich müssen sie mit dem Wissen umgehen, dass viele ihrer Nachbarn es nicht mehr rechtzeitig schaffen konnten. Gabriel Nir kann seit dem Unglück kaum schlafen. „Ich wünschte, ich hätte mehr tun können“, sagt er. „Diese Leute, die vermisst werden, kommen nicht zurück.“
Die 62-jährige Susana Alvarez trauert um die beste Freundin ihrer Mutter, Hilda Noriega, die unter den Toten ist. Seit der Katastrophe hat sie sich nicht mehr in ein Bett gelegt. Wenn sie schläft, dann auf einem Stuhl. „Die Menschen in den Trümmern, ich konnte sie hören. Einige riefen "Hilfe"“, sagt sie. „Das wird mich immer verfolgen. Ich werde das nie vergessen.“
RND/AP