Warum unsere Gesellschaft die Intellektuellen braucht
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Kritik ist das Fundament eines lebendigen politischen Lebens. Mitdenken, mitreden kann und will heute jeder – und gelernt hat er dies vom Intellektuellen.
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Hannover. Alle drei Jahre listet die Zeitschrift “Cicero“ 500 Intellektuelle auf – 2017 führte die Liste Martin Walser an, ihm folgte Peter Sloterdijk und die vielen anderen Namen, die jedem bekannt sind oder bekannt sein sollten.
Die wenigsten allerdings wissen, welche Aufgabe, welche Funktion diese Ausgezeichneten in der Gesellschaft haben. Die Zeitschrift spricht von der “Deutungsmacht“ der Intellektuellen, meint damit aber eine ganz andere Macht als die, die Politiker und Manager ausüben.
Die Macht des Intellektuellen ist eine des Wortes. Er schreibt als kritischer Beobachter und Menschenkenner in Zeitungen und Büchern über politische, wissenschaftliche und moralische Fragen, und er redet darüber in öffentlichen Veranstaltungen. Dabei äußert er sich aber nicht als Fachmann, sondern als verantwortlicher Mitbürger.
Redekünstler in Fernseh-Talkshows
Heutzutage trifft man den Intellektuellen am ehesten als Redekünstler in den Fernseh-Talkshows an. Dort spricht er viel, engagiert und ausdauernd, so als kenne er die Materie besser als jeder Fachmann, der mit ihm am Gespräch teilnimmt.
Auffällig wird er gerade dadurch, dass er den ernsten, arbeitsamen Bürgern, den Politikern, Juristen und Wirtschaftsleuten, die ihm gegenübergesetzt werden, gerne und heftig widerspricht. Deren Wissen sei, so wirft er ihnen vor, auf ein bestimmtes Gebiet beschränkt, sie selbst seien kurzsichtig, hätten eine falsche Perspektive und einen mangelnden Überblick über das Gesamte des Gesellschaftsprozesses.
Dieser Typus redet klug und ist doch kein Philosoph, er ist rastlos und hat doch keinen festen Beruf. In der Vergangenheit war er ein Einzelgänger und angriffslustiger Außenseiter. Der Soziologe Karl Mannheim nannte ihn die “freischwebende Intelligenz“.
Eine Schöpfung der Französischen Revolution
Dieser Querulant ohne Amt, Kanzel, Katheder oder Firma ist trotzdem gefragt, ja sogar geliebt. Er ist eine Schöpfung der Französischen Revolution, wenngleich man von ihm Vorläufer auch schon in der Antike antrifft: Diogenes zum Beispiel, der die Leute, die an seinem Fass vorbeikamen – ja sogar den mächtigen König Alexander – kritisierte, war ebenso wenig schüchtern wie heute der Fernseh-Intellektuelle. Der fährt in der Talkshow den angesehensten Bürgern schon mal über den Mund.
Seit der Französischen Revolution vermehrte sich dieser Typus des redegewandten Kritikers, den man nach dem Hund des Diogenes, Kynos, den Zyniker nennt. Im 18. Jahrhundert trifft man ihn in den Salons der aristokratischen Damen an. Dort entzückt er – ein Original in schlechter Kleidung, mit herausforderndem Benehmen und provozierender Rede – die von ihren machtgierigen und untreuen Ehemännern enttäuschten Gastgeberinnen. Sie liebten ihn alle, nicht nur Madame d’Épinay, die Rousseau und seinesgleichen kosend ihre “Bären“ nannte.
Im 19. Jahrhundert, da die aristokratischen Salons an Bedeutung verlieren, flaniert dieser “Bär“, dieser geistreiche Schlamper, der gelegentlich auch den Dandy spielt, auf den Boulevards der Metropolen. Er mischt sich unter Künstler, Dirnen und Dichter, sitzt im Café und beschimpft – durch seinen Auftritt ebenso wie durch Wort und Schrift – den Bourgeois, der neben ihm sitzt.
Mit dem Rollkoffer von einem Podium zum nächsten
In Deutschland erfindet der Intellektuelle gerne Schimpfwörter für seinen Gegner, schilt ihn einen Philister, falls er sich im Haus und im Wirtshaus verkriecht, einen Spießer, wenn er einen zu kleinen Verstand hat für das, was wichtig wäre in Politik, Kunst und Leben. Das bislang letzte Schimpfwort fand der Intellektuelle 1968: die Schickeria. Damit attackierte er jene bildungsbürgerliche Oberschicht, die der Kunst und Kultur zugetan ist – aber nicht, wie er, mit gebührendem Ernst, sondern nur, um ihren Reichtum zur Schau zu stellen.
Schimpfwörter gegen den bourgeoisen Feind erfinden Intellektuelle heute nicht mehr, dazu sind sie zu sehr auf das Wohlwollen der zahlenden Institution Fernsehen angewiesen. Heute eilen sie mit dem Rollkoffer von einer Sendung zur anderen, von einem Podium zum nächsten und diskutieren, meist ohne ihr Publikum zu provozieren, mit Fachleuten. Gerade weil er die Frechheit, mit der er einst in den Salons auftrat, so ziemlich abgelegt hat, zeigt sich die Notwendigkeit der Funktion, die dieses Geschöpf der Französischen Revolution für eine demokratische Gesellschaft hat.
Kritischer Beobachter am Rande der Gesellschaft
Der Intellektuelle steht als Beobachter am Rande der Gesellschaft. Er ist meist ein passionierter Leser, denn seine Kritik soll aus der Zusammenschau aller Erfahrung und Erkenntnis hervorgehen. So kann er denn auch heute noch zu Talkshows mit den unterschiedlichsten Themen eingeladen werden.
Er ist kein Spezialist, ist auch kein großer Denker, wohl aber ein Animateur des Denkens. Als Anreger einer Gesellschaft, die – wie die demokratische – über sich nachdenken und sich selbst korrigieren sollte, kann er nicht hoch genug geschätzt werden.
Und er wird geschätzt! Kritik ist das Ferment eines lebendigen politischen Lebens. Mitdenken, mitreden kann und will heute jeder – und gelernt hat er dies vom Intellektuellen, dem er seit je gerne zuhörte und dem er heute im Fernsehen oft zuschaut.
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Hannelore Schlaffer
© Quelle: privat
Hannelore Schlaffer schreibt als Autorin und Essayistin für verschiedene Zeitungen und Magazine. Zudem lehrte sie unter anderem an der Ludwig-Maximilians-Universität München Literaturwissenschaft. Ihr neues Buch “Rüpel und Rebell. Die Erfolgsgeschichte des Intellektuellen“ (160 Seiten, 18 Euro) erscheint am 13. August im Zu Klampen Verlag.
Von Hannelore Schlaffer