20 Jahre nach den Anschlägen in New York: die Ohnmacht der Supermacht

Am 11. September 2001 steuerten Al-Kaida-Terroristen zwei entführte Passagierflugzeuge in die Türme des World Trade Centers in Manhattan, New York. Über 2700 Menschen verloren bei den Anschlägen ihr Leben.

Am 11. September 2001 steuerten Al-Kaida-Terroristen zwei entführte Passagierflugzeuge in die Türme des World Trade Centers in Manhattan, New York. Über 2700 Menschen verloren bei den Anschlägen ihr Leben.

Jeder weiß, wo er damals war? Nein, eben nicht mehr: Wer heute Mitte zwanzig ist, kennt den 11. September 2001 nur aus Erzählungen und Fernseh­bildern, die den Schock und die Massivität kaum transportieren können.

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Kein Wunder: Selbst wir als Augen­­zeugen – denn dieser Terror war ja fürs Livefernsehen konzertiert – haben die Attacke eingedampft: Die Erinnerung besteht aus den ikono­grafischen Bildern der Einschläge ins World Trade Center und dem Kollaps der Türme; die Bewertung ist ebenso simpel: Der 11. September sei eine Weichen­stellung gewesen; ein Moment, der die Welt veränderte und die Zeit zerschnitt in ein Davor und ein Danach.

Doch beides ist falsch. Den Blick nach vorn, die Frage nach Lehren aus 9/11, erleichtert diese Erkenntnis nicht.

In Afghanistan geht es weiter wie vor 2001

Fakt ist aber: Weil sich Joe Biden als neuer US-Präsident in den Kopf gesetzt hatte, das Ende der Afghanistan-Mission am 20. Jahrestag ihres Auslösers zu feiern, blicken wir ausgerechnet jetzt auf ein klares Indiz dafür, dass die Welt heute nicht viel anders ist als am 10. September 2001.

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In Afghanistan machen die Taliban weiter, wo sie aufgehört hatten, ehe die USA wegen der Beherbergung des 9/11-Master­minds Osama bin Laden gegen sie vorgingen. In Pakistan, wo bin Laden zuletzt geduldet worden war, oder bei den US-Geschäfts­freunden in Saudi-Arabien, woher die meisten der Täter stammten und ihr Weltbild bezogen hatten, gab es nicht einmal diesen Einschnitt.

So lässt sich heute nicht mehr leugnen, dass sowohl die kollektive Erinnerung als auch die Bewertung des 11. September zu simpel sind. Der Anschlag bestand nicht allein aus der Attacke auf New York. Er bezog seinen Schrecken gerade daraus, dass parallel Washington angegriffen wurde und kein Mensch wusste, wann und wo die Terroristen als Nächstes zuschlagen – und wie Amerika reagieren würde.

Kleine Änderungen

Einiges von dem, was Mitt­­zwanziger heute nicht mehr hinter­fragen, hat seinen Ursprung in 9/11. Dass etwa die Terror­furcht bei Flug­reisen auch nach 20 Jahren so omni­präsent ist, dass niemand Körper­scanner und Flaschen­verbot anzweifelt, hatte man 2001 nicht erwartet.

Auch dass das Gefühl anhält, die Welt­nachrichten ständig live verfolgen zu müssen, und unsere Medien­nutzung so rasant auf den Kopf stellt, war nur eine Vision – und keine verheißungsvolle.

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Begünstigt wurde beides durch die technologische Revolution dieser zwei Dekaden, mit der auch die Bürger- und Frei­heits­rechte nicht immer Schritt halten konnten. In den USA hatte es nach 9/11 nicht lange gedauert, bis sie zugunsten der Terror­prävention gesetzlich eingeschränkt wurden.

Und doch hatten die aller­meisten Entwicklungen, die die Welt nach 9/11 nahm, schon vor den Anschlägen eingesetzt.

Große Linien

Das beginnt damit, dass die Attacken zwar den Terror globalisierten und ihn vom Nahost- oder Nord­irland-Phänomen auch in den Alltag der US-Amerikaner schleuderten – dass aber die Attentäter dafür längst globalisierte Verkehrs- und Kommunikations­­ströme nutzten. Auch haben nicht die Anschläge zum vergifteten Verhältnis zwischen westlicher und arabischer Welt geführt, eher war es andersherum.

Selbst die Polarisierung der US-Gesell­schaft, die durch die Debatten um den Irak-Krieg als falsche Reaktion auf 9/11 beschleunigt wurde, war zuvor bereits im Zuge des Sex­skandals um Bill Clinton eskaliert.

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Der Niedergang war schon nach Vietnam offenkundig

Vor allem aber waren die beiden Interventionskriege in Afghanistan und im Irak, in denen die USA nach dem kurzen Anti­terror­einsatz gegen bin Laden schnell steckten, beileibe nicht ihre ersten Feldzüge im Namen des Demokratie­exports.

Heute wissen wir, dass gerade der Einsatz am Hindukusch die Ohn­macht der Super­macht nur beschleunigte. Offen­kundig war sie bereits nach ihrer Niederlage in Vietnam geworden.

20 Jahre nach 9/11 stecken USA und Nato tiefer in der Krise als je zuvor. Der Versuch Amerikas, sich als letzte Welt­macht zu beweisen, hat das Gegenteil bewirkt.

Für den Blick nach vorn bedeutet das nichts Gutes. Eine Welt, in der die USA sich mit inneren Zerwürfnissen quälen und dafür China und Russland die Neu­ordnung der Einfluss­sphären überlassen, ist schon keine schöne Vorstellung. Aber die Einsicht, dass der einst erwartete Sieges­zug der Demokratie bis in die Brut­stätten des Terrorismus nicht kriegerisch erreicht wird, hat noch keine Ideen für bessere Wege zu diesem Ziel hervorgebracht.

So ist die wohl schlimmste Folge von 9/11, dass die Anschläge den Westen von einem konstruktiven Blick in die Zukunft ablenkten. Sei es friedliche Bündnis­­politik, sei es der Einsatz gegen Armut daheim und im globalen Süden, sei es der Klima­schutz, um den man selbst in den USA vor 2001 bereits kurz gerungen hatte: All das wurde verschoben, vergessen, auf Eis gelegt, weil der Schock des 11. September alles andere in den Schatten gestellt hatte.

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Nicht nur der Anschlag auf den Westen, auch unsere Reaktion hat die Welt 20 Jahre gekostet.

RND-Korrespondent Steven Geyer erlebte den 11. September 2001 als Journalismus­student im US-amerikanischen Athens, Ohio, und berichtete 2001 und 2002 für deutsche Medien aus Ohio, Washington (D.C.) und New York City. 2004 erschien sein Buch „Der deutsche Online­journalismus am 11. September“ (Verlag R. Fischer).

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