77. Jahrestag des Kriegsendes

Was bedeutet „Nie wieder!“ heute?

Ein Mädchen steht auf dem Turm eines zerstörten russischen Panzers in der Nähe des Dorfes Makariw, Region Kiew. Russland war am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert und hatte damit den größten Militärangriff in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg begonnen.

Ein Mädchen steht auf dem Turm eines zerstörten russischen Panzers in der Nähe des Dorfes Makariw, Region Kiew. Russland war am 24. Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert und hatte damit den größten Militärangriff in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg begonnen.

Berlin. Nie wieder. Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus. Das war die Parole, die Lehre aus der totalen Niederlage 1945, der Fixpunkt der deutschen Friedensbewegung in West und Ost. Der totale Vernichtungskrieg, von Deutschen 1939 begonnen und nach Deutschland 1945 zurückgekehrt, sollte der letzte große Krieg sein.

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Kriege gab es weiter, kalte und heiße, auch in Europa, nach 1990 auch solche, an denen sich die Bundeswehr beteiligte. Und dennoch blieb die Parole. Sie bleibt auch in diesem Jahr als Titel einer Erklärung der Linkspartei, die zum russischen Vernichtungskrieg in der Ukraine folgenden Satz beisteuert: „Wir verurteilen diesen Krieg zutiefst, fordern einen sofortigen Waffenstillstand und den Abzug der russischen Truppen aus den besetzten Gebieten.“ Janine Wissler, Dietmar Bartsch und ihre Genossen tun so, als ob dieser Krieg nichts mit uns zu tun habe. Als ob politische Prosa Putin und seine Panzerbesatzungen beeindrucken würde. Ihr „Nie wieder“ ist genauso zynisch geworden wie der Satz von Gregor Gysi, der nach einem Besuch in Butscha von „Kriegsverbrechen, die hier stattgefunden haben sollen“ schrieb.

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Die in Kiew geborene Publizistin Marina Weisband schrieb zu Beginn dieses Gedenkwochenendes auf Twitter: „Deutsche sagen ‚Nie wieder‘ und manche meinen damit ‚Nie wieder Krieg‘ und andere meinen ‚Nie wieder Faschismus‘. Und dann entsteht Verwirrung, wenn sich diese Forderungen widersprechen.“

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Weisband hat recht. Wer heute „Nie wieder Krieg“ sagt, tut so, als habe der Krieg, der Butscha und Mariupol verwüstet hat, nichts mit uns zu tun. Als träfe der Beschuss von Charkiw eine namenlose Stadt weit im Osten und nicht einen Ort, den bereits die Wehrmacht 1941 verwüstete.

Wer heute „Nie wieder Faschismus“ sagt, muss auch Deutschland meinen, aber nicht nur. Er oder sie meint auch ein Regime, das verstärkt Züge des Faschismus aufweist, das ein souveränes Nachbarland überfallen hat und einen Vernichtungskrieg unter dem löchrigen Deckmantel des Antifaschismus führt.

Nach Empörung über Lawrow: Putin entschuldigt sich für Hitler-Vergleich

Lawrow hatte in einem Interview im italienischen Fernsehen zum Krieg in der Ukraine in Israel und auch in anderen Ländern für Empörung gesorgt.

Kremlherrscher Wladimir Putin hat aus dem „Nie wieder“ ein faschistisches „Immer wieder“ gemacht. Er hat den Tag des Kriegsendes in Moskau für seine Zwecke radikalisiert.

In der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 unterzeichneten die deutschen Oberbefehlshaber von Heer, Kriegsmarine und Luftwaffe im sowjetischen Hauptquartier Berlin-Karlshorst die bedingungslose Kapitulation. 1965 wurde der 9. Mai in der Sowjetunion als Feiertag eingeführt, um an den Tag des Sieges über das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg und damit das Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“ zu erinnern. Während Russland bis heute den 9. Mai feiert, würdigt die Ukraine inzwischen den 8. Mai als Tag des Gedenkens und der Versöhnung.

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Der 9. Mai in Moskau war immer schon ein „Tag des Sieges“ im „Großen Vaterländischen Krieg“, aber er ließ auch Raum für individuelle Trauer. 27 Millionen Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion starben im Zweiten Weltkrieg, erschossen an der Front und durch deutsche Mordkommandos oder verhungert als Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, Zivilistinnen und Zivilisten. Es gibt keine Familie auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, die keine Toten aus diesem Krieg zu beklagen hat.

Hannoversche Leibnizschüler am Geschütz: Batteriestellung in Aken an der Elbe im März 1944.

Vergessene Kindersoldaten aus Hannover: Neuer Film über Hitlerjugend und Luftwaffenhelfer

Die Nazis schickten selbst Halbwüchsige in den Krieg – auch in Hannover. Ein Film dokumentiert jetzt, wie Hitlerjungen hier für Einsätze gedrillt wurden und Jugendliche als Luftwaffenhelfer zum Einsatz kamen.

80.000 Sowjetsoldaten verloren allein in der Schlacht um Berlin 1945 ihr Leben. Im Treptower Park in Berlin sind 7000 von ihnen bestattet. Sie stammten aus allen Republiken der damaligen Sowjetunion. Es waren Russen, Weißrussen, Ukrainer, Kasachen darunter, Angehörige sibirischer und kaukasischer Völker. 77 Jahre nach dieser letzten großen Schlacht des Zweiten Weltkriegs, die Europa vom Nationalsozialismus befreite, tobt über ihren Gräbern ein neuer Kampf um die Deutungshoheit in einem neuen Krieg.

In den vergangenen Wochen schwenkten Putin-Fans riesige Sowjetflaggen vor der Anlage und legten Blumensträuße nieder, die mit einem Z markiert waren, dem Symbol des russischen Völkermords in der Ukraine. Wenige Tage später markierten Kriegsgegner den Sockel der riesenhaften Sowjetsoldaten im Zentrum der Anlage mit einem anklagenden „Why?“ (Warum?) und dem Satz „Ukrainian blood on Russian hands“ – ukrainisches Blut an russischen Händen.

Ein gemeinsames Gedenken der Nationen, die damals Hitler besiegten, ist nicht mehr möglich. Nur der Berliner Senat schafft überall gleichermaßen Empörung, indem er am 8. und 9. Mai sowjetische, russische und ukrainische Flaggen an den Gedenkstätten verbietet. Das soll Auseinandersetzungen verhindern und ein „würdiges Gedenken“ ermöglichen, sagt die Innensenatorin. Doch die Verfügung ist anmaßend und schafft nur neue Empörung, vor allem auf ukrainischer Seite.

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In Moskau wird sich Putin auch in diesem Jahr mit einer Militärparade feiern lassen. In Berlin sind seine Staatsrocker von den Nachtwölfen unterwegs. Eskalationen auf den Straßen der deutschen Hauptstadt sind nicht ausgeschlossen.

Putin vereinnahmt die Toten des Zweiten Weltkriegs für seine Aggression

„Putin hat einen großen Krieg seit vielen, vielen Jahren vorbereitet“, sagt Russland-Expertin Masha Gessen in einem aktuellen Interview. Für seinen Anspruch auf imperiale Größe und die Unterstützung in der Heimat ist laut Gessen eines unerlässlich: die Glorifizierung des Sieges über Hitler-Deutschland im „Großen Vaterländischen Krieg“.

Russland hat laut Putin das alleinige erinnerungspolitische Erbe der Sowjetunion angetreten. Die 27 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs sind aus seiner Sicht alle Russen. Russland allein ist Opfer und Sieger gleichermaßen. Auch die Gedenkstätten wie die Anlage im Treptower Park mit ihren Stalin-Zitaten und dem Rotarmisten mit dem gesenkten Schwert, der ein gerettetes Kind auf dem Arm hält und ein Hakenkreuz zertritt, reklamiert Russland für sich. Ukrainerinnen und Ukrainer in Deutschland fordern nun eigene Orte des Erinnerns.

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Der Aggressor im Kreml wurde sieben Jahre nach Kriegsende in Leningrad geboren, seine Mutter überlebte die 28 Monate währende Blockade der Stadt durch die Wehrmacht. Und doch lässt er seine Truppen Städte in Grund und Boden bomben und aushungern – Grosny, Aleppo, Mariupol.

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Was bedeutet das jetzt für das deutsche „Nie wieder!“?

Vor einem Jahr sprach Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am historischen Ort der Kapitulation von 1945 in Berlin-Karlshorst von der deutschen Verantwortung für den Vernichtungskrieg im Osten. Er nannte Deutschlands Vernichtungskrieg im Osten „mörderische Barbarei“. Steinmeier betonte, es sei wichtig, sich der Geschichte zu stellen, sie anzunehmen. Zu lange hätten „wir Deutschen das mit Blick auf die Verbrechen im Osten unseres Kontinents nicht getan“. Es sei an der Zeit, dies nachzuholen.

Der Bundespräsident sprach von Leningrad, er hätte auch von Charkiw sprechen können. Dort ließen die Deutschen allein im Jahr 1942 14.000 Menschen verhungern. Er erwähnte an dem Ort, der damals noch Deutsch-Russisches Museum hieß und sich nun in Museum Berlin-Karlshorst umbenennt, immerhin auch Belarus und die Ukraine als Hauptschauplätze des Vernichtungskriegs im Osten.

Dennoch ist in der deutschen Erinnerung, vor allem der westdeutschen, immer noch vom „Russland-Feldzug“ und von „den Russen“ die Rede. Leningrad darf nie vergessen werden, aber Deutschlands historische Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg erstreckt sich nicht allein auf Russland.

Heute klingt auch Steinmeier anders. In seiner Rede vor dem DGB-Gewerkschaftskongress am Sonntag sprach der Bundespräsident von Mariupol und Charkiw, vor 80 Jahren und heute. Er stellte fest: „Dieser 8. Mai ist ein Tag des Krieges.“ Er bekräftigte: Wir stehen an der Seite der Ukraine, aus voller Überzeugung und mit ganzem Herzen, gemeinsam mit unseren europäischen Nachbarn!“ Und er erklärte, was „Nie wieder“ heute heißt: „Denn auch das ist eine Lehre des 8. Mai 1945: dass wir Europäer uns nicht noch einmal auseinandertreiben lassen durch aggressiven Nationalismus und Völkerhass! Nationalismus, Völkerhass und imperialer Wahn dürfen nicht die Zukunft Europas beherrschen. Das müssen wir verhindern!“

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Der frühere EU-Ratspräsident und polnische Premier Donald Tusk schrieb: „Die Deutschen müssen die Ukraine vorbehaltlos unterstützen, wenn sie uns glauben machen wollen, dass sie Lehren aus ihrer Geschichte gezogen haben.“ Die Historikerin Hedwig Richter stimmt ihm zu und sagt im Interview mit dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND): „Dieses Jahr bietet es sich bestimmt an, besonders an die von Nazi-Deutschland überfallenen Länder in Mittel- und Osteuropa zu erinnern, die später unter dem sowjetischen Imperialismus leiden mussten. Und es sollte sich endlich überall in Deutschland die Erkenntnis durchsetzen, dass diese Länder weder die Verfügungsmasse Russlands sind noch sein dreckiger Hinterhof, nur weil Moskau sie über Jahrzehnte unterdrückt und vergewaltigt hat.“

Deutschlands führende Politikerinnen und Politiker scheinen die neue Dimension des „Nie wieder!“ zum 77. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus und in der elften Woche eines neuen Vernichtungskrieges in Osteuropa verstanden zu haben.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas fährt am Sonntag nach Kiew und legt in Babyn Jar einen Kranz nieder – ein wichtiges, richtiges Zeichen. SPD-Chef Lars Klingbeil kündigt in der „Welt am Sonntag“ eine „neue Ostpolitik“ an. Die Partei werde ihre jahrelange fatale Fixierung auf Russland hinter sich lassen: „Künftig müssen wir viel stärker mit den osteuropäischen Staaten kooperieren.“ Und Bundeskanzler Olaf Scholz hat den Abend dieses symbolischen Tages gewählt, um in einer Fernsehansprache zu erklären, was „Nie wieder!“ für Deutschlands Solidarität gegenüber der Ukraine bedeutet.

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