Afghanistan: Schwere Lage für Ortskräfte unabhängiger Organisationen
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Kabul: Für Mitarbeiter von Nichtregierungsorganisationen ist es schwierig, einen Platz in einem der Evakuierungsflüge zu bekommen.
© Quelle: Marc Tessensohn/Bundeswehr/dpa
Mailand. Afghanen, die direkt für die Nato-Truppen im Land tätig waren, können auf einen Platz in einem der Evakuierungsflüge hoffen. Aber auch tausende andere Afghanen arbeiteten für unabhängige Organisationen aus Europa und fürchten nun um ihr Leben. Und für sie ist bisher keine Rettung in Sicht.
Pangea verhalf afghanischen Frauen zu mehr Eigenständigkeit. Nun müssen sich Dutzende Mitarbeiter der italienischen Organisation plötzlich versteckt halten. Berichten zufolge gehen die Taliban auf der Suche nach Personen mit Verbindungen zum Westen von Tür zu Tür. Das Chaos in Kabul gefährdet somit nicht nur die Glaubwürdigkeit der Nato-Länder als militärische Partner. Auch für humanitäre Helfer könnte die Arbeit in Krisengebieten schwieriger werden.
Der Pangea-Gründer Luca Lo Presti hat die Streitkräfte seines Heimatlandes Italien gebeten, auch 30 seiner afghanischen Ortskräfte sowie deren Familien mit an Bord von Evakuierungsflügen zu nehmen. Doch seine Bitte wurde abgelehnt. „Heute nicht“, antwortete ihm der zuständige Militärkoordinator am Donnerstag.
Insgesamt haben westliche Staaten seit der Machtübernahme der Taliban bereits Tausende Menschen aus Afghanistan herausgeholt. Die Mehrheit der Geretteten waren allerdings Bürger der jeweiligen Länder oder Afghanen, die unmittelbar in deren Missionen eingebunden waren.
Unklar, wo genau die Linie gezogen wird
Viele Politiker haben versprochen, auch anderen gefährdeten Personen zu helfen – etwa Feministinnen, politischen Aktivisten oder Journalisten. Noch ist aber unklar, wo genau die Linie gezogen wird und in welchem Maße die Taliban die Ausreise von afghanischen Staatsbürgern dulden werden.
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Pangea hat in den vergangenen 20 Jahren etwa 70.000 Frauen dabei unterstützt, wirtschaftlich auf eigenen Beinen zu stehen. Viele konnten einen Friseur- oder Schönheitssalon oder eine Bäckerei eröffnen. Seine Mitarbeiter vor Ort seien nun in großer Gefahr, weil die Ziele seiner Organisation in Widerspruch zu denen der Taliban stünden, sagt Lo Presti von Mailand aus. „Pangea ist ein Feind, weil jeder, der Bewusstsein und Rechte schafft, ein Feind ist. Wir müssen uns jetzt verstecken.“
Das italienische Außenministerium verkündete am Donnerstag die Landung eines Flugzeugs aus Afghanistan mit 202 Zivilpersonen an Bord. Unter ihnen waren die Aktivistin Sahra Ahmadi und weibliche Forscher der Veronesi-Stiftung. Denen, „die für Italien gearbeitet“ hätten und die jetzt bedroht seien, gelte „besondere Aufmerksamkeit“, hieß es.
Die unzähligen Afghanen hingegen, die in den vergangenen Jahren für unabhängige Hilfsgruppen und andere Nichtregierungsorganisationen gearbeitet haben, können zumindest bisher kaum auf Schutz vor den Taliban hoffen. Andere waren zwar für die Nato-Truppen tätig, sind nun aber fern des Flughafens in dem von den Extremisten kontrollierten Land gestrandet. Viele löschen auf ihren Handys Bilder und Kontaktdaten, die ihnen zum Verhängnis werden könnten.
„Wir haben sie mit nichts in Kabul zurückgelassen”
„Wir müssen diese Menschen in Kabul retten. Wir haben sie mit nichts in Kabul zurückgelassen“, sagte der Arzt Dr. Arif Orjachail, der für die italienische Entwicklungsagentur im Einsatz gewesen war, nach dem Erreichen eines Flugzeugs vor Reportern. „Sie haben mit uns zusammengearbeitet, wir haben sie als Geburtshelfer, Pfleger und Ärzte ausgebildet.“ Nun habe man sie einfach im Stich gelassen.
Ein von dem deutschen Soldaten Marcus Grotian geleitetes Netzwerk hatte vor einer Woche seine vermeintlich sicheren Unterkünfte für afghanische Ortskräfte geschlossen. Die „Safe Houses“ seien zu Todesfallen geworden, hieß es. Eines der früheren Verstecke hätten die Taliban bereits besucht, sagte Grotian. Zum Glück sei es schon leer gewesen. Inzwischen erhält der deutsche Soldat laut eigenen Angaben täglich 400 bis 500 Anrufe von hilfesuchenden ehemaligen Ortskräften. Aber „wir wissen nicht mehr, wie wir ihnen helfen können“, sagt er.
Lo Presti fordert die Einrichtung eines humanitären Korridors zur Rettung von Afghanen, die mit dem Westen zusammengearbeitet haben.Bisher sei er daran gehindert worden, selbst nach Kabul zu reisen, um bei der Identifizierung von Pangea-Mitarbeitern und deren Familien zu helfen, sagt er. Ihm sei bewusst, dass es auch Befürchtungen gebe, dass als Flüchtlinge getarnte Dschihadisten in westliche Länder gelangen könnten. Umso wichtiger sei es, dass jemand von seiner Organisation vor Ort sei, um für diejenigen zu bürgen, die tatsächlich für ihn gearbeitet hätten.
Frauen fürchten Zwangsheirat
Der britische Ex-Soldat Paul Farthing bemüht sich um eine Ausreisemöglichkeit für 25 Afghanen, die für ein Tierheim in Kabul arbeiten. Unter ihnen seien junge Ärztinnen, die nicht nur ein Ende ihrer Karrieren, sondern vor allem Zwangsheiraten mit Taliban-Kämpfern fürchten würden. „Wir hatten ihnen Hoffnungen, Ziele und Zukunftsträume gegeben“, sagt er.
Die Machtübernahme der radikalen Islamisten gilt als schwerer Rückschlag für die Nato – aber auch für die demokratischen Werte, die der Westen in Afghanistan in den vergangenen 20 Jahren zu vermitteln versucht hatte. Der Abzug aus dem Land habe gezeigt, dass es kein Konzept dafür gebe, wie Leuten beigestanden werden könne, wenn die Dinge schiefgingen, sagt Grotian. Das wiederum ist ein großes Problem auch für unabhängige Hilfsorganisationen, die in gefährlichen Gebieten oft darauf angewiesen sind, vor Ort Mitarbeiter zu rekrutieren und sich auf sie verlassen zu können.
Die Organisation Yaar, die sich für die afghanische Diaspora in Deutschland engagiert, erhält nun ebenfalls unzählige Anrufe von Menschen, die den Taliban zu entkommen versuchen. Sollten die Evakuierungen scheitern, werde dies langfristige Konsequenzen haben, betont Yaar-Chef Kava Spartak. Wenn Europa seine langjährigen Unterstützer in Afghanistan jetzt einfach zurücklasse, dann „wäre für europäische Werte nicht mehr viel übrig“.
RND/AP