Afghanistan-Untersuchungsausschuss: Wenn die Flucht an deutscher Bürokratie scheitert
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Viele afghanische Ortskräfte und ihre Angehörigen wurden nach Deutschland gebracht, aber längst nicht alle.
© Quelle: Marc Tessensohn/dpa
Berlin. S. J. steht stellvertretend für das Chaos beim viel zu späten Versuch der Bundesregierung, Ortskräfte in Afghanistan in Sicherheit zu bringen. Im Untersuchungsausschuss des Bundestags schildert der heute 29 Jahre alte Afghane am Donnerstag über Stunden, woran seine Evakuierung und die seiner Familie zunächst scheiterte: Nicht an den Taliban, sondern an der deutschen Bürokratie. Der TV‑Journalist hat jahrelang für die Bundeswehr im nordafghanischen Masar-i-Scharif gearbeitet. Er kritisiert, er sei zurückgelassen worden, obwohl er sogar eine Aufnahmezusage Deutschlands gehabt habe. „Unter größter Lebensgefahr“ habe er sich schließlich mit seinen beiden kleinen Kindern und seiner Ehefrau nach Pakistan durchgeschlagen – dann erst habe er nach Deutschland reisen könne.
Immer noch 1400 Ortskräfte in Afghanistan
Der Ausschuss bittet darum, den Namen des Zeugen nicht zu nennen, der bei der Sitzung meist über einen Übersetzer spricht. Das Gremium will Licht in die Ereignisse der letzten rund eineinhalb Jahre des internationalen Einsatzes bringen, der im August 2021 mit dem Sieg der Taliban endete. Die damalige Bundesregierung war in die Kritik geraten, weil sie völlig unvorbereitet war und viele Ortskräfte nicht rechtzeitig in Sicherheit brachte. Das Auswärtige Amt geht davon aus, dass immer noch rund 1400 Ortskräfte in Afghanistan sind, denen eine Aufnahme in Deutschland zugesagt wurde.
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Das Foto der Bundeswehr zeigt deutsche Soldaten, die während der Rückverlegung zum Ende der Mission Resolute Support (RSM) in ein Transportflugzeug A400M der Luftwaffe steigen.
© Quelle: Torsten Kraatz/Bundeswehr/dpa
Keine Aufnahme trotz Bundeswehrtätigkeit
J. sagt, er habe von 2015 bis 2021 als TV‑Journalist für die Bundeswehr in Masar-i-Scharif gearbeitet. Im August 2016 sei der Vertrag mit der Bundeswehr beendet worden, danach sei er bei einem afghanischen Subunternehmer, einem Medienzentrum, angestellt gewesen. Seine Tätigkeit für die Bundeswehr sei aber die gleiche wie vorher gewesen. Ende April 2021, als der Abzug der deutschen Truppen gerade begonnen hatte, sei ihm und seinen Kollegen mitgeteilt worden, dass sie nicht am Ortskräfteverfahren zur Aufnahme in Deutschland teilnehmen könnten – weil sie nicht mehr direkt bei der Bundeswehr angestellt seien.
Ich verstand die Welt nicht mehr.
Frühere Ortskraft der Bundeswehr
Vor den vorrückenden Taliban seien er und seine Familie nach Kabul geflohen, sagt J. Das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte von Marcus Grotian, der selbst als Soldat im nordafghanischen Kundus war, habe sich weiter für seine Aufnahme engagiert. Am 19. August – vier Tage nach der Machtübernahme der Taliban – sei die erlösende Nachricht von Grotian gekommen.
Damals hatten sich Tausende Afghanen am Hauptstadt-Flughafen versammelt, um zu fliehen. J. sagt, er habe sich mit seiner Familie an Taliban-Checkpoints vorbei zum Flughafen durchgeschlagen – um dort trotz Aufnahmezusage von Bundeswehrsoldaten abgelehnt zu werden. Sie hätten seinen Namen nicht auf ihrer Liste gefunden und ihn weggeschickt. „Ich verstand die Welt nicht mehr“, sagt J. „Es war eine furchtbare Szene sowohl für mich als für meine Frau und meine Kinder.“ Im Oktober 2021 schaffte es J., mit seiner Familie über den Landweg nach Pakistan zu fliehen und von dort aus nach Deutschland zu gelangen.
Nächstes Debakel Mali?
Grotian ist am Donnerstag ebenfalls als Zeuge vor den Ausschuss geladen, weil sich die Aussagen aber in die Länge ziehen, wird seine Anhörung verschoben. Am Rande der Sitzung fordert er im Gespräch mit Reportern, Lehren aus dem Chaos von damals zu ziehen. Der Untersuchungsausschuss „muss auf jeden Fall deutlich machen, was in dem Ortskräfteverfahren nicht funktioniert hat, damit wir in der Zukunft daraus lernen können“, sagt Grotian. Mit Blick auf den Bundeswehreinsatz in Mali fügt er hinzu: „Wenn ich höre, was in Mali geplant ist für Ortskräfte, falls es da irgendwelche Probleme gibt, dann sehe ich da keinerlei Verbesserung.“ Die Frage, ob Deutschland die Ortskräfte in Afghanistan im Stich gelassen habe, beantwortet er mit „Ja“.
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Chaos am Flughafen Kabul im August 2021. Afghanen und Afghaninnen, die vor den Taliban fliehen wollten, rannten auf das Flugfeld, um in Sicherheit gebracht zu werden.
© Quelle: -/AP/dpa
„Kein Kontakt“ mehr zu Ortskräften
Bislang ist kein Fall bekannt, bei der eine Ortskraft wegen ihrer Tätigkeit für Deutschland von den Taliban getötet worden ist. Grotian will das aber nicht als Beleg dafür gelten lassen, dass frühere Ortskräfte in Afghanistan nicht gefährdet seien. „Mit dieser Wahrnehmung habe ich mehrere Probleme“, sagt er. „Es melden sich bei mir keine umgebrachten Ortskräfte, sondern nur die, die leben. Warum sich jemand bei mir nicht mehr meldet, kann ich nicht nachvollziehen, weil ich nicht in Afghanistan bin. Und aufseiten der Regierung kann mir auch niemand sagen, dass hundert Prozent aller Ortskräfte, die mal für jemanden gearbeitet haben, noch am Leben sind, denn mit denen hat man gar keinen Kontakt.“
J. sagt: „Die Ortskräfte in Afghanistan sind in Lebensgefahr. Ich hoffe, dass diejenigen, die noch in Afghanistan sind, nach Deutschland kommen können.“ Er habe die militanten Islamisten unterschätzt, die nun in Kabul wieder am Ruder sind. „Die Taliban habe ich als schwach angesehen“, sagt er. „Ich war der Meinung, dass die Taliban keine Zukunft in Afghanistan haben.“ Als der 29‑Jährige von seiner Mutter spricht, die er in Afghanistan zurücklassen musste, kommen ihm die Tränen. Der Ausschussvorsitzende Ralf Stegner (SPD) unterbricht die Sitzung für eine Pause. Davor hat J. seiner Hoffnung Ausdruck verliehen, „dass Afghanistan ein Land wird ohne Krieg, ohne Tyrannei“. Dann werde er in seine Heimat zurückkehren, sagt er. „Wir werden uns mit Dankbarkeit wieder von Ihnen in Deutschland verabschieden.“