Auschwitz – Die Stadt im Schatten des Lagers
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Der Schriftzug, den die Welt kennt: „Arbeit macht frei“ steht als zynische Botschaft über dem Eingang zum KZ Auschwitz. Auf die Stadt, die jenseits dieses Tores liegt, achtet kaum ein Besucher.
© Quelle: imago images/Schöning
Auschwitz. Auschwitz lag hinten, bis zur letzten Sekunde. Dann schaffte Klemen Pretnar den Ausgleich. 3:3. Und dann, in der Nachspielzeit, kam sogar noch der Siegtreffer. 4:3 gegen Tychy, den ewigen Rivalen.
„3000 Zuschauer waren in der Halle“, sagt Jerzy Zaborski, „Superstimmung.“ Zaborski ist Sportredakteur der Zeitung „Dziennik Polski“, er sitzt in den Räumen der Redaktion am Marktplatz und zeigt Videos vom Spiel. Musik, schnelle Schnitte, Tor, Jubel.
Es war ein wichtiger Sieg, weil Tychy in der höchsten polnischen Eishockeyliga auf Platz eins steht, aber durch den Sieg ist Auschwitz wieder näher dran. Vielleicht geht da noch was, hofft Zaborski.
In seiner Stimme schwingt Begeisterung mit. Seit knapp 30 Jahren berichtet er über die Eishockeymannschaft von Auschwitz. Achtmal ist sie in dieser Zeit Meister geworden, zweimal Pokalsieger. Sie ist ein guter Grund, stolz zu sein auf diese Stadt, findet Jerzy Zaborski.
Nur: Die meisten Besucher der Stadt wissen von solchen Dingen nichts. „Sie kommen wegen des Lagers, wegen der Wachtürme, wegen des Schildes ‚Arbeit macht frei‘, wegen des Stacheldrahts“, sagt Zaborski. Sie interessierten sich nicht dafür, dass es da auch eine Stadt gibt gleichen Namens, in der immerhin 40.000 Menschen leben. Oder sie wissen nicht mal, dass es diese Stadt überhaupt gibt. Das, sagt Zaborski, „ärgert mich“: dass seine Stadt nur für das Vernichtungslager bekannt ist. Und nicht auch für ihre Gegenwart, für die Eishockeymannschaft zum Beispiel, Unia Oswiecim.
Leben mit der Geschichte
Oswiecim ist der polnische Name, Auschwitz der deutsche. Oswiecim ist eine alte Stadt, sie existiert seit mehr als 800 Jahren. Dann überfielen die Deutschen 1939 Polen und bauten hier, gleich auf der anderen Seite des Flusses, der Sola, nur eineinhalb Kilometer vom Marktplatz entfernt, zunächst das Konzentrationslager Auschwitz, das sie dann um das Lager Birkenau erweiterten. Dies hatte von Anfang an nur einen Sinn: die systematische Ermordung möglichst vieler Menschen, die Vernichtung der Juden. So wurde Auschwitz vom Namen einer Stadt zum Synonym für eines der größten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit.
Und wie geht man mit so einer Geschichte um?
Man kann es machen wie Barbara Daczynska, die 35-Jährige, die einen Film gedreht hat über die Stadt und ihre Bewohner in der Zeit des Lagers und die gelernt hat, dass es keinen Sinn hat, vor dieser Geschichte davonlaufen zu wollen. „Auschwitz wird dich immer finden“, sagt sie. Oder man macht es wie Malgorzta Glen, die Kollegin des Sportredakteurs Zaborski, die es pragmatisch nimmt und sagt: „Immerhin weiß jeder gleich, wo Oswiecim liegt.“ Oder man versucht es wie der Präsident der Stadt und Region Oswiecim, Janusz Chwierut, der Geschichte und Gegenwart in Einklang bringen muss, wie schwierig das auch ist.
Jedenfalls ist Oswiecim, äußerlich betrachtet, tatsächlich eine ganz normale polnische Stadt, ganz so, wie es Bürgermeister Chwierut immer wieder betont. Eine Stadt mit normalen Problemen und einem herausgeputzten Marktplatz, auf dem im Januar, wie in Polen üblich, noch immer ein Tannenbaum blinkt. Mit schlechter Luft, weil zu viele Bewohner mit Kohleöfen heizen. Mit Stau morgens und abends, weil es nur zwei Brücken über die Sola gibt, was nicht reicht.
Sehnsucht nach Distanz
Man kann, das beteuern die Menschen in Oswiecim, im Alltag sehr leicht an der Geschichte vorbeileben. Ein Pflichtbesuch im Museum während der Schulzeit, das war’s. Oswiecim, das ist die Stadt – Auschwitz ist das Lager, so versuchen sie es hier zu trennen. Nur stoßen sie damit an Grenzen. Zum Beispiel dann, wenn sie anderswo erklären, woher sie kommen.
„Aus Oswiecim? In welcher Baracke lebst du denn?“ Oder: „Wo ist denn deine gestreifte Kleidung?“ Das sind Fragen, die auch Barbara Daczynska immer wieder zu hören bekam. Spätfolgen der Geschichte.
Daczynska wuchs allerdings nicht nur mit diesen Fragen auf. Sondern auch mit den Erzählungen ihres Großvaters. Der schilderte ihr, da war sie noch eine Jugendliche, wie SS-Männer den KZ-Häftlingen bei ihren Arbeitseinsätzen mit Schlägen das Rückgrat brachen. Oder wie er sich nach dem Krieg als Pfleger um die überlebenden Insassen des Lagers kümmerte, denen die abgefrorenen Zehen abfielen, als er die Decke hob, so erzählte er es. „Das hat sich mir eingeprägt“, sagt Barbara Daczynska heute.
Man kann auf solche Erzählungen mit Abwehr reagieren. Und tatsächlich ging sie zum Studium fort nach Lublin, ging auf Distanz zu ihrer Heimatstadt. „Doch als ich eine Studienfreundin zum ersten Mal besuchte, sagte sie: ,Zwei Häuser weiter begann übrigens das Vernichtungslager Majdanek.‘“ Das sei der Moment gewesen, in dem sie verstand, dass Auschwitz sie immer begleiten werde.
Die 35-Jährige arbeitet heute in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim, einem quirligen Ort am Rand der Stadt. Außerdem hat sie mit ihrer Schwester einen Film gedreht, über Menschen aus ihrer Stadt, die während des Krieges KZ-Insassen Lebensmittel zusteckten und ihnen halfen, „Das geheime Netz des Guten um Auschwitz“ heißt er. Der Film ist die Antwort auf eine Frage, die ihrer Schwester in London so oft gestellt wurde: „Warum habt ihr eigentlich nichts gegen das Lager getan?“ Es ist eine absurde Frage, wenn man weiß, dass die Menschen aus der Stadt Auschwitz selbst zu den ersten Opfern gehörten. Mehr als die Hälfte der Einwohner waren Juden, die ins Lager kamen, und dann waren da noch fast 50 Bürger, die wegen ihrer Hilfe für die Insassen umgebracht wurden.
Barbara Daczynska hat ihren Film auch in Deutschland gezeigt. Die Welt soll erfahren, was dieses Lager für ihre Stadt bedeutet, aber es ist ein mühsamer Kampf. „Auch in Polen“, sagt sie, „kennt dieses Kapitel kaum jemand.“
Jeder, das ist ihre Erfahrung, hat bei „Auschwitz“ ein Bild im Kopf. Nur ihrer Stadt wird dieses Bild nicht gerecht.
Hoffen auf die Besucher
Ändert sich das jetzt vielleicht? Immer mehr Menschen besuchen das Museum Auschwitz, mehr als zwei Millionen waren es zuletzt, ein neuer Rekord. Für die meisten Gedenktouristen sieht das Programm so aus: Übernachtung in Krakau, nach dem Frühstück Bustour nach Auschwitz. Führung, vielleicht noch eine Pizza im Restaurant gegenüber vom Eingang. Rückfahrt.
„Inzwischen jedoch“, sagt die Lokalredakteurin Glen, „kommen immer mehr Menschen auch hierher.“ Sie muss es wissen, von ihrem Arbeitsplatz aus hat sie freien Blick über den ganzen Marktplatz. Die Cafés, sagt sie, seien im Sommer immer voller. Deshalb teilt sie auch nicht den Pessimismus ihres Sportkollegen Zaborski. Oswiecim, glaubt sie, werde von den Museumsgästen immer mehr profitieren.
Das wäre etwas Neues. Lange Zeit jedenfalls hat die Geschichte die Stadt gehemmt. Das war so, als Oswiecim in den Neunzigerjahren ein Einkaufszentrum errichten wollte und der Aufschrei groß war. H&M an der Zufahrt zum KZ, das schien vielen schwierig. Das Einkaufszentrum öffnete schließlich. Aber die Disco, die ausgerechnet in einem ehemaligen Lagergebäude ansässig war, machte nach kurzer Zeit wieder zu.
Und heute? Jeder Bürgermeister einer 40.000-Einwohner-Stadt weltweit würde über zwei Millionen Besucher auf seinem Grund laut jubeln. Mit Auschwitz aber geht das nicht. Und so sackt Janusz Chwierut, 54 Jahre, im Besprechungsraum des Präsidentenhauses in der Altstadt, zwischen Flaggenständer und Weihnachtsbaum, kurz zusammen, als er das Wort „profitieren“ hört.
Zwei Dinge möchte er unbedingt vermeiden: den Eindruck, die Stadt wolle aus dem früheren Lager irgendeinen Nutzen ziehen, und den Eindruck, die Stadt würde sich über ihre spezielle Last mit der Geschichte irgendwie beschweren.
„Oswiecim ist eine ganz normale europäische Stadt“, sagt Chwierut. Wenn er aufzählt, was die Stadt ausmacht, dann kommen vor: die Sportler. Ein Kulturfestival. Der größte Arbeitgeber, die Chemiefabrik (übrigens ein Nachfolger der auch von KZ-Häftlingen gebauten Buna-Werke). Das viele Grün – unter anderem ist jeder der vielen Kreisverkehre in Oswiecim unterschiedlich bepflanzt.
Aber dann ist da eben auch noch die Sache mit der Umgehungsstraße. Sie wird auch am ehemaligen Lagergelände entlangführen, das Museum soll eine eigene Abfahrt bekommen, weil ja immer mehr Busse kommen. Aber wie viel Abstand ist nötig?
Nach polnischem Recht, sagt Chwierut, reichen 500 Meter. Das ehemalige Lager gehört aber zum Unesco-Weltkulturerbe. Und die Denkmalschützer verlangen, dass man die Straße von den Baracken aus nicht sieht. Deshalb, sagt Chwierut, gehen keine Brücken, sondern nur Tunnel. Was alles nicht leichter macht. Es seien, sagt er, noch viele Gespräche nötig. „Man muss Rücksicht nehmen auf die Geschichte“, sagt Chwierut. Es geht nicht anders.
An diesem Montag nun werden Überlebende und Staatsgäste der Befreiung des Lagers vor 75 Jahren gedenken, Fernsehsender aus aller Welt werden dies übertragen.
Ganz nebenbei wird auch die Stadt in den Berichten mal erwähnt und beschrieben werden, sodass Barbara Daczynska vielleicht häufiger das passiert, was ihr vor Kurzem zum ersten Mal passierte. „Als ich erzählte, woher ich komme“, erzählt sie, „wollte mein Gegenüber wissen: Oswiecim – ist das nicht die Stadt mit dem Eishockeyverein?“ Sie sei, sagt Barbara Daczynska, durchaus erfreut gewesen, auch diese Frage einmal zu hören.