Austritt der Türkei aus Istanbul-Konvention: „Schlag ins Gesicht aller Frauen“

Frauen protestieren Mitte Juni in Ankara gegen den Istanbul-Konvention-Austritt der Türkei.

Frauen protestieren Mitte Juni in Ankara gegen den Istanbul-Konvention-Austritt der Türkei.

Berlin. Gewalt gegen Frauen ist in der Türkei Alltag. Im vergangenen Jahr wurden nach Angaben der Plattform „Frauenmorde stoppen“ (Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu, KCDP) 474 Frauen von Männern ermordet.

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Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International weist zudem in ihrem Jahresbericht 2020/21 darauf hin, dass in der Türkei Fälle häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie drastisch zugenommen hätten – ohne dass die Behörden angemessen darauf reagierten. So seien allein in den ersten Monaten dieses Jahres pro Monat etwa 30 Frauen Opfer von Femiziden geworden. In vielen Fällen hätten Frauen vor ihrer Ermordung mehrmals bei der Polizei um Schutz ersucht, ohne Hilfe zu bekommen.

Trotz dieser ernüchternden Bilanz ist die Türkei zum 1. Juli offiziell aus der Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen vor Gewalt ausgetreten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte den Schritt im März per Dekret verfügt und damit für Bestürzung bei Frauenrechtsorganisationen gesorgt. Die Folge waren breite Proteste in den Metropolen des Landes und scharfe Kritik aus Europa und den USA.

Amnesty International fürchtet Folgen für Frauen und queere Menschen

Politikerinnen und Vertreterinnen von Nichtregierungsorganisationen aus Deutschland zeigten sich am Donnerstag besorgt über den Austritt der Türkei aus dem Abkommen. „Der Rückzug aus der Konvention verletzt die Rechte von Millionen von Frauen und Mädchen im Land, gefährdet ihre Sicherheit und steht im Widerspruch zu der Verpflichtung der türkischen Regierung“, sagte Katharina Masoud, Frauenrechtsexpertin bei Amnesty International Deutschland.

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Die Türkei begründet ihren Rückzug aus der Istanbul-Konvention unter anderem damit, dass diese dazu benutzt werde, „Homosexualität zu normalisieren“, was mit den Familienwerten des Landes unvereinbar sei. Von dem Schritt seien daher nicht nur Frauen, sondern auch lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen betroffen, sagte Masoud. Dahinter stecke eine „tiefe Missachtung der Rechte von Frauen, Mädchen und LGBTI-Menschen“.

Claudia Roth fordert „zielführende Sanktionen“ gegen die Türkei

Die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Bärbel Kofler, kritisierte den Austritt der Türkei aus der Istanbul-Konvention am Mittwoch auf Twitter. Das Abkommen sei ein „Leuchtturm des internationalen Kampfes gegen Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt“, schrieb die SPD-Bundestagsabgeordnete.

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Der Europaabgeordnete und Vorsitzende der Türkei-Delegation im EU-Parlament, Sergey Lagodinsky (Grüne), sieht die Gründe für den Austritt der Türkei in der Innenpolitik des Landes: Um seine politische Existenz abzusichern, binde sich Erdogan endgültig an Nationalisten und Ultrakonservative, sagte Lagodinsky dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Frauen- und Minderheitenrechte werden für diese fatale Allianz geopfert.“

Der Rückzug aus dem Abkommen müsse außenpolitische Folgen für die Türkei haben, forderte Lagodinsky. „Das ist eine formelle Verabschiedung aus dem Wertekanon der EU-Aspiranten. Wenn die Türkei eine Zukunft in der EU anstrebt, muss diese Entscheidung revidiert werden.“

Lagodinskys Parteikolleginnen Claudia Roth und Ulle Schauws gingen sogar einen Schritt weiter und forderten Sanktionen gegen die Türkei. „Der Austritt aus der Istanbul-Konvention ist ein politisch gewollter Schlag ins Gesicht aller Frauen und demokratisch gesinnten Menschen in der Türkei“, sagten die Bundestagsabgeordneten in einer gemeinsamen Erklärung. Die Bundesregierung und die EU dürften den autokratischen Umbau der Türkei und die stetige Verletzung von Bürger- und Menschenrechten durch Präsident Erdogan nicht länger tolerieren, sondern endlich zielführend sanktionieren.

Katarina Barley: „Geht um patriarchalen Machterhalt“

Die stellvertretende Vorsitzende im Türkei-EU-Ausschuss, die Europaabgeordnete Özlem Demirel (Die Linke), sagte dem RND: „Das politische Signal ist deutlich: Gewalt an Frauen und Kindern wird nicht als grundsätzlich falsch betrachtet.“ Das sei inakzeptabel. Zudem zeige die Entscheidung, dass Erdogan internationale Verträge und demokratische Entscheidungen egal seien. Auch unter den EU-Mitgliedsstaaten gebe es Kritiker der Istanbul-Konvention. Demirel befürchtet, diese könnten sich durch den türkischen Schritt in ihrer Haltung bestärkt fühlen.

Auch die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley (SPD), befürchtet, dass Erdogans Schritt zum Vorbild werden könnte. Ultrakonservative Regierungen würden unter dem Deckmantel des Schutzes der Familie die Rechte von Frauen und Minderheiten abbauen, sagte Barley dem RND. Ungarn habe die Konvention bislang noch nicht ratifiziert und in Polen denke die regierende PiS-Partei offen darüber nach, Erdogans Beispiel zu folgen. Diese rechtkonservative Bewegung wolle keine offenen Gesellschaften, in der jeder und jede gewaltfrei und selbstbestimmt leben kann, sagte Barley. „Im Kern geht es dabei um patriarchalen Machterhalt. Dagegen müssen wir uns außerhalb und auch leider innerhalb der EU stemmen.“

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