Brasilien: Demonstranten fordern „keine Amnestie“ für Randalierer
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/O4YX67H7LJF45KU4WSZDEDDY6Q.jpg)
Menschen protestieren im Regierungsviertel in Brasilia.
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Rio de Janeiro. Die Sprechchöre hallten zunächst von den Wänden eines Hörsaals der Universität von São Paulo wider. Stunden später wurden die Worte von Tausenden Menschen auf den Straßen von mehreren brasilianischen Städten gerufen: „Keine Amnestie! Keine Amnestie!“ Einen Tag nach dem Sturm auf das Regierungsviertel in Brasília wurden damit klare Forderungen nach harten Strafen für die Anhänger des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro laut.
„Diese Leute müssen bestraft werden. Die Leute, die es angeordnet haben, müssen bestraft werden und diejenigen, die Geld dafür gegeben haben, müssen bestraft werden“, sagt Bety Amin, eine 61-jährige Therapeutin mit dem Wort „Demokratie“ auf ihrem Shirt, am Montag auf einem zentralen Boulevard von São Paulo. „Sie repräsentieren nicht Brasilien. Wir repräsentieren Brasilien.“
Rund 1500 Bolsonaro-Anhänger festgenommen
Sicherheitskräfte räumten am Montag ein Camp der Bolsonaro-Anhänger vor dem Hauptquartier der Streitkräfte in der brasilianischen Hauptstadt.
© Quelle: Reuters
Politikwissenschaftler: Amnestie würde „Instabilität verstetigen“
Ein Verzicht auf Bestrafung könne zwar „im Moment Spannungen vermeiden“, würde aber „die Instabilität verstetigen“, betonte Luis Felipe Miguel, Politikwissenschaftler an der Universität von Brasília, in einer am Montag veröffentlichten Kolumne. „Das ist die Lektion, die wir aus dem Ende der Militärdiktatur gelernt haben sollten, als sich Brasilien dagegen entschied, die Mörder und Folterer des Regimes zu bestrafen.“ Ein Amnestie-Gesetz hatte Militärangehörige davor geschützt, für Verbrechen in den Jahren 1964 bis 1985 zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Nur einen Tag nach den Unruhen vom Sonntag hatte die Polizei bereits etwa 1500 mutmaßliche Randalierer festgenommen. Einige waren im Kongress-Gebäude, im Obersten Gerichtshof oder im Präsidentenpalast auf frischer Tat ertappt worden. Die Mehrheit aber wurde am Morgen danach im Bereich eines Protestcamps in der Hauptstadt in Gewahrsam genommen. Viele wurden den Tag über in einer Schule festgehalten.
Auch Hintermänner werden juristisch verfolgt
Die Pressestelle der brasilianischen Bundespolizei teilte auf Anfrage der Nachrichtenagentur AP mit, dass eine Anklageerhebung gegen mindestens tausend Personen geplant sei. Hunderte ältere und erkrankte Personen wurden am Dienstag freigelassen. Bis zum Dienstagnachmitag wurden mehr als 500 weitere in ein nahe gelegenes Gefängnis oder eine andere Haftanstalt überstellt, wie die Gefängnisbehörde des Hauptstadtbezirks mitteilte. Die Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva betonte, dass dies erst der Anfang der juristischen Aufarbeitung sei.
Justizminister Flávio Dino kündigte an, auch diejenigen zu belangen, die hinter den Kulissen dazu beigetragen hätten, die Bolsonaro-Unterstützer über Soziale Medien zusammenzurufen und deren Transport zu finanzieren. Zu den Vorwürfen zählten unter anderem organisierte Kriminalität und das Anstiften zu einem Putsch sowie zur gewaltsamen Abschaffung des demokratischen Rechtsstaates. Die Behörden würden auch Anschuldigungen nachgehen, laut denen örtliche Sicherheitskräfte die Zerstörungen geduldet hätten. Die Aufarbeitung sei unerlässlich, „damit sich solche Ereignisse nicht wiederholen“.
Polizist über Ausschreitungen: „Das ist Terrorismus“
Der Sturm auf die Regierungsgebäude hat deutlich gemacht, wie sehr die Demokratie in Brasilien derzeit gefährdet ist. Rechtsextreme Kräfte im Land weigern sich bis heute, die Wahlniederlage Bolsonaros vom 30. Oktober anzuerkennen. Seither zelteten sie vor Kasernen, um die Streitkräfte zu einem Eingreifen zur Entmachtung des Wahlsiegers Lula aufzufordern. Da ein Militärputsch ausblieb, wollten sie die Sache nun offenbar selbst in die Hand nehmen.
In den Nationalfarben Grün und Gelb gekleidet gingen sie ans Werk – sie zerschlugen Fenster, warfen Möbel um, schleuderten Computer und Drucker auf den Boden. Kunstwerke wurden zerstört, im Präsidentenpalast wurde ein großes Gemälde des brasilianischen Malers Emiliano Di Cavalcanti durchlöchert. Stunden vergingen, bis die Polizei den Mob unter Kontrolle brachte.
„Es ist inakzeptabel, was gestern passiert ist. Das ist Terrorismus“, sagt Marcelo Menezes, ein 59-jähriger Polizist aus dem nordöstlichen Staat Pernambuco, bei einer Demonstration in São Paulo. „Ich bin zur Verteidigung der Demokratie hier. Ich bin zur Verteidigung des Volkes hier.“
Ähnlichkeiten zum Sturm auf das Kapitol in Washington
Die Parole „Keine Amnestie!“ war auch schon am 1. Januar bei der Amtseinführung von Lula da Silva zu hören gewesen, als der Präsident in seiner Rede Versäumnisse seines Vorgängers kritisierte. Bolsonaro, ein früherer Hauptmann der brasilianischen Streitkräfte, hatte oft nostalgisch von der Zeit der Militärdiktatur gesprochen. Einen berüchtigten Folterer bezeichnete er als Helden. Er sagte, die damalige Führung hätte bei der Hinrichtung von Kommunisten noch weiter gehen sollen. Seine Regierung ließ sogar den Jahrestag des Putsches von 1964 feiern.
Politische Beobachter hatten wiederholt gewarnt, dass Bolsonaro dabei sei, die Grundlagen für einen Aufstand nach dem Vorbild des Sturms auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 zu schaffen. Monatelang schürte er unter seinen Anhängern Zweifel an der Glaubwürdigkeit des nationalen Wahlsystems – ohne je Beweise für seine Vorwürfe zu liefern und obwohl unabhängige Experten ihm klar widersprachen.
Das äußerst knappe Wahlergebnis wurde von Politikern des gesamten Spektrums anerkannt, auch von manchen Verbündeten Bolsonaros. Der scheidende Präsident überraschte fast alle, indem er sich bald weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückzog. Er gestand seine Niederlage zwar nicht direkt ein, wetterte aber auch nicht allzu nachdrücklich über angeblichen Betrug. Ein Versuch, Millionen Stimmen für ungültig erklären zu lassen, wurde von den Wahlbehörden schnell zurückgewiesen.
Der harte Kern seiner Anhängerschaft gab trotzdem nicht auf. Lula warf Bolsonaro unmittelbar nach den Ausschreitungen vor, den Aufstand unterstützt zu haben. Der Ex-Präsident wies diesen Vorwurf am Sonntag zurück.
Staatsanwaltschaft: Lokale Einsatzkräfte haben sich fahrlässig verhalten
Ermittelt wird auch zu der Frage, inwieweit die Polizei in der Hauptstadtregion den Aufstand begünstigt haben könnte. Von der Staatsanwaltschaft hieß es, lokale Einsatzkräfte hätten sich mindestens fahrlässig verhalten. Ein Richter am Obersten Gericht suspendierte den für die Einheiten zuständigen Regionalgouverneur und warf ihm „vorsätzliche Unterlassung“ vor.
Bei den pro-demokratischen Protesten betonen die Teilnehmer, dass die zentrale Forderung – „Keine Amnestie!“ – sowohl von den nun ermittelnden Behörden als auch von den rechtsextremen Kräften selbst verstanden werden müsse. „Nach dem, was gestern passiert ist, müssen wir auf die Straßen gehen“, sagt der Rentner Marcos Gama. „Wir müssen reagieren.“
RND/AP