Cherson: Russische Militärbesatzung beschlagnahmt Wohnungen und verhängt Sperrstunde
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Ein ausgebrannter Lkw steht in der Region Cherson nach Kämpfen am 30. Oktober.
© Quelle: Getty Images
Cherson/Moskau. Russische Soldaten beschlagnahmen nach Angaben eines Einwohners in der besetzten Regionalhauptstadt Cherson offenbar systematisch zivile Wohnungen. Der Informant, der aus Sicherheitsgründen nur seinen Vornamen Konstantin genannt wissen wollte, sagte der Nachrichtenagentur AP, Soldaten gingen von Tür zu Tür, überprüften Eigentumsurkunden und zwängen die Bewohner, sofort zu gehen, wenn sie die Eigentümerschaft der Wohnung nicht beweisen könnten.
Konstantins Bericht könnte darauf hindeuten, dass sich die russischen Streitkräfte auf einen Häuserkampf in der von ukrainischen Truppen belagerten Stadt einrichten. „Sie zwingen die Einwohner zu gehen, und dann ziehen russische Soldaten in die geräumten Wohnungen überall in Cherson ein“, sagte Konstantin. „Es gibt fast keine Lebensmittellieferungen in die Stadt, die Einwohner benutzen ihre Vorräte und stehen Schlange vor den wenigen Läden, die noch öffnen.“
Angst vor russischer Rückkehr: RND-Reporter trifft ukrainische Betroffene nahe Cherson
RND-Reporter Can Merey besucht eine Schule nahe Cherson, in der sich die russischen Streitkräfte vor ihrem Rückzug aus dem Gebiet angesiedelt hatten.
© Quelle: RND
In der von russischen Truppen besetzten ukrainischen Stadt Cherson hat die russische Besatzerverwaltung eine Sperrstunde angeordnet und die Menschen mit Nachdruck zur Flucht aufgefordert. „In der Stadt Cherson wurde eine Sperrstunde verhängt, sie dauert 24 Stunden - nur dafür, dass wir unsere Stadt verteidigen können“, sagte der Vize-Chef der Besatzungsverwaltung, Kirill Stremoussow, am Freitag in einer Videobotschaft. Die Menschen sollten zu ihrer eigenen Sicherheit das Gebiet Cherson verlassen. Kremlchef Wladimir Putin sagte in Moskau, die Evakuierung der Stadt sei notwendig, damit die Menschen nicht durch Kampfhandlungen gefährdet würden.
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„Natürlich sollten jetzt jene, die in Cherson leben, sich aus der Zone der gefährlichen Handlungen entfernen“, sagte Putin bei einem Treffen mit Freiwilligen, die Flüchtlingen aus der Ukraine helfen. Nach Angaben der russischen Besatzer, die eine Rückeroberung der Stadt durch ukrainische Truppen verhindern wollen, wächst in der umkämpften Region die Gefahr.
„Möglich sind Terroranschläge und Provokationen“, sagte Stremoussow. „Deshalb bitten wir noch einmal die Einwohner von Cherson, die Stadt zu verlassen (…) und den Militärs die Möglichkeit zu geben, ihre Sache ohne Zivilisten zu erledigen.“
Am 18. Oktober hatten die Besatzer angesichts massiven Beschusses von ukrainischer Seite zur Evakuierung der Stadt aufgerufen. Nach offiziellen Angaben sollen bereits 80.000 Menschen das Gebiet Cherson verlassen haben. Die Ukraine spricht von Verschleppung der Menschen.
Der ukrainische Militäranalyst Oleh Schdanow sagte der AP, die ukrainische Offensive auf Cherson habe mit einem gezielten Beschuss russischer Nachschublinen die Versorgung russischer Einheiten mit Waffen und Lebensmittel über den Dnipro abgeschnitten. „Die Russen verstehen die Gefahr durch blockierte Transportwege und haben sich praktisch mit der Tatsache abgefunden, dass sie sich vom rechten Dnipro-Ufer zurückziehen müssen“, ist seine Überzeugung. „Aber die Truppen sind nicht bereit, Cherson friedlich zu verlassen und bereiten sich auf Kämpfe in der Stadt vor. Sie stationieren dort die mobilisierten Reservisten und neue taktische Bataillons-Gruppen.“
Schdanow zufolge haben die ukrainischen Streitkräfte eine Luft- und Artillerieüberlegenheit auf der westlichen Dnipro-Seite. Das bedeute, dass sie einer frontalen Konfrontation aus dem Weg gehen könnten. Kiew warte ab, weil die russischen Kräfte von Tag zu Tag weniger würden.
In den umkämpften Teilen der Region sollen weiter 170.000 Menschen ausharren, die bisher nicht fliehen wollten oder konnten. Nach nicht überprüfbaren Angaben des russischen Verteidigungsministeriums werden weiter rund 5000 Menschen täglich über den Fluss Dnipro in Booten und über eine Pontonbrücke Sicherheit gebracht.
Cherson ist die bislang einzige Gebietshauptstadt, über die Kiew nach dem russischen Einmarsch schon Ende März die Kontrolle verloren hatte. Im September wurde das Gebiet nach einem Scheinreferendum von Russland annektiert, kein Land erkennt diesen Völkerrechtsbruch an. Die ukrainische Armee führt seit Wochen eine Offensive zur Befreiung der Region.
RND/dpa/AP