Chiles neuer Präsident: Ein junger Hoffnungsträger – auch für Europa
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Gabriel Boric, neuer Präsident von Chile.
© Quelle: imago images/Aton Chile
Jubel in den Straßen von Santiago, eine Generation hat den Politikwechsel erreicht: Gabriel Boric (35) ist nicht nur der jüngste, sondern auch der „stimmgewaltigste“ Präsident in der Geschichte Chiles. Der ehemalige Studentenführer konnte insgesamt 4,6 Millionen der abgegebenen Stimmen (55,7 Prozent) auf sich vereinen.
Noch nie wählten so viele Menschen in der Andennation einen Politiker in das höchste Staatsamt. Sein konservativer Rivale Jose Antonio Kast (55) kam auf 44,15 Prozent. Dieser gratulierte demokratisch anständig und fair dem Wahlsieger, ein starker Moment für die chilenische Demokratie.
Boric hat erst einmal alles auf seiner Seite: die Stimmung im Land, die Hoffnung seiner Generation auf ein neues, sozial gerechteres Chile, die ihm deutlich näher als der Opposition stehenden Volksvertretungen, ein aktuell arbeitendes Verfassungskonvent mit linksliberaler Mehrheit.
Die Erwartungshaltung an den jungen Hoffnungsträger ist gewaltig, genährt auch durch seine glänzenden rhetorischen Fähigkeiten. Mit seiner Wahl gehen zwei Jahre voller Turbulenzen zu Ende, die mit den Sozialprotesten 2019 ihren Anfang nahmen und nun in der Ausarbeitung einer neuen Verfassung und einem neuen jungen Präsidenten münden. Chiles Wahlvolk hat die Zukunft in die Hände einer neuen Generation gelegt.
Nun aber muss Boric beweisen, dass er nicht nur die Vision eines neuen gesellschaftlichen Systems beschreiben, sondern sein Land auch in diese Richtung führen kann. Boric erbt eine im lateinamerikanischen Vergleich funktionierende Wirtschaft, den von der Industrie für Akkus heiß begehrten Rohstoff Lithium und eine junge Bevölkerung, die von ihm eine Perspektive, gut bezahlte Jobs und kostenfreie Bildung erwartet. Daran wird er sich messen lassen müssen, sonst heißt es schon bald: Früher war alles besser.
Es stehen weitreichende Entscheidungen an: Wie umgehen mit dem jahrhundertealten Konflikt mit den Ureinwohnern? Die Mapuche sind nicht länger bereit zu warten, sie fordern Land und Rechte. Boric hat ihnen Hoffnung gemacht, die er nun nicht enttäuschen darf. Er will die Lithiumförderung staatlich und nicht privatwirtschaftlich organisieren, dazu müssen schnell die notwendigen Strukturen aufgebaut und Fachleute gefunden werden. Letztere sind auf dem Weltmarkt heiß begehrt und erwarten – auch von einem staatlichen Unternehmen – Gehälter wie in der Privatwirtschaft.
Boric wird mit diesem bemerkenswerten klaren Wählerauftrag zugleich einer der einflussreichsten Präsidenten in Lateinamerika. Einer, der zu einem neuen Ansprechpartner Europas und der USA werden könnte, wenn es darum geht, einen Mitstreiter im Kampf gegen die Linksdiktaturen Kuba, Venezuela und Nicaragua zu finden. Denn Boric hat den Mut, die schweren Menschenrechtsverletzungen in Havanna, Managua und Caracas öffentlich zu kritisieren.
Das sollte der Westen anerkennen und tunlichst unterstützen, wenn er denn an einem tatsächlichen demokratischen Aufbruch in diesem Teil der Welt interessiert ist. Ein wirklich demokratischer Sozialismus, der mit Leistungsbilanzen und guter Regierungsarbeit statt Repression überzeugt, das wäre ein großer Fortschritt für die Region.