Das missbrauchte Unglück von Genua
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Absturz ins Nichts: Die Unglücksbrücke von Genua.
© Quelle: Luca Zennaro dpa/
Berlin. Niemand kann im Moment genau sagen, warum der Ponte Morandi in Genua am Dienstag während eines Unwetters eingestürzt ist. Der Schock darüber, dass in einem modernen Industrieland wie Italien solch eine hochfrequentierte Brücke einfach in sich zusammenfällt und dabei Dutzende Menschen getötet oder verletzt werden, sitzt nicht nur dort tief. Überall in Europa wird nun gefragt, wie anfällig Straßen, Schienen und Brücken sind. Das ist verständlich.
Die Ursachenforschung in dieser Tragödie geht selbstverständlich einher mit der Suche nach möglichen Verantwortlichen. Das wird in diesem Fall schwer genug, schließlich ist die Brücke in Genua schon älter als ein halbes Jahrhundert. Die Ermittlungen müssen sich mit Technologien beschäftigen und mit Politik. Und vermutlich tauchen dabei viele Nachlässigkeiten auf, deren Summe schließlich zum Tod von Menschen geführt hat.
Doch der notwendige Blick zurück und die Bestrafung Verantwortlicher kann nicht die Sicht nach vorn ersetzen. Denn dass die italienische Verkehrsinfrastruktur von Rom in den letzten Jahren vernachlässigt worden ist, wird von niemand ernsthaft bestritten und bedarf wohl keiner langwierigen Gutachten. Die Italiener dürfen jedoch nun von ihrer gerade gewählten Regierung erwarten, dass sie konkrete Schritte unternimmt, die Straßen und Brücken in Zukunft sicherer machen.
Eigentlich ist dies eine Aufgabe, die den in Rom regierenden Populisten von Fünf Sterne und Lega liegen müsste. Sie präsentieren sich ja seit ihrer Wahl nahezu täglich als zupackende Problemlöser – sind den Beweis dafür jedoch in allen Fällen schuldig geblieben. Und auch jetzt, die Katastrophe und die Toten von Genua vor Augen, fällt Innenminister Matteo Salvini nichts Besseres ein, als den europäischen Defizit-Verfahrensregeln die Schuld daran zu geben, dass Italien kein Geld für die Sicherheit von Straßen oder Schuldächern ausgeben könne. Indirekt behauptet Salvini: Die EU ließ diese Brücke einstürzen, ist damit mitverantwortlich für Tote und Verletzte.
Das ist einfach nur niederträchtig. Denn zur Wahrheit gehört, dass im europäischen Haushalt Infrastrukturmittel für Italien bereitliegen, die seit Jahren nicht abgerufen werden. Die Regierung von Giuseppe Conte hat bei ihrem Start vor fast drei Monaten versprochen, die öffentlichen Investitionen anzukurbeln. Angesichts des gigantischen Schuldenbergs Italiens wird dies sicher kein leichtes Unterfangen.
Aber vielleicht lohnt es sich ja, jetzt über den eigenen Schatten zu springen und mit Europa zu sprechen statt nur über Europa. Denn Reisesicherheit geht schließlich nicht nur Italien etwas an.
Von Thoralf Cleven