Der mühsame Kampf gegen die Clans

Ehrung für einen Schwerkriminellen: Wandbild des ermordeten Nidal R. am Tempelhofer Feld.

Ehrung für einen Schwerkriminellen: Wandbild des ermordeten Nidal R. am Tempelhofer Feld.

Berlin. Die Killer nahmen keine Rücksicht. Achtmal feuerten sie mit Pistolen auf Nidal R. Der 36-Jährige hatte an einem Eiswagen am Tempelhofer Feld gestanden, um ihn herum Frauen und Kinder, auch seine eigenen. Es war Sonntag, 9. September, gegen 17.40 Uhr, ein heißer, sonniger Spätsommertag.

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Als wenige Minuten später Rettungswagen und Polizei eintrafen, waren die Täter längst in einem Auto verschwunden. Nidal R., der bei der Hauptstadtpresse den Beinamen „Berlins bekanntester Intensivstraftäter“ trug, wurde ins Benjamin-Franklin-Klinikum in Steglitz, ein Krankenhaus der Charité, gebracht. Dort erlag der staatenlose Palästinenser seinen schweren Schussverletzungen.

Doch nicht nur im Operationssaal spielten sich an diesem Abend dramatische Szenen ab, so schildert es ein leitender Arzt dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Vor dem Eingang zur Klinik blockierten schätzungsweise 150 Menschen – laut Polizei Mitglieder arabischer Großfamilien – die Zugänge zum Krankenhaus. Niemand sollte hinein zu Nidal R. 125 Polizisten und acht Polizeihunde sorgten dafür, dass niemand auf die Großfamilie traf. Die Beamten baten per Twitter darum, nicht zur Klinik zu kommen: „Es darf heute Nacht niemand zu ihm.“

„Ein Krankenhaus in Geiselhaft“

Der Mediziner behauptet sogar, das Klinikum wäre für Stunden aus dem Notfallsystem der Berliner Kliniken herausgenommen worden, weil nicht einmal Rettungswagen durchgelassen wurden. „Ein Krankenhaus in Geiselhaft von Familienclans“, empört sich der Arzt, „so weit sind wir schon.“ Die Charité bestätigt das nicht, vermeidet jedoch auch auf Nachfrage ein Dementi. Sprecherin Manuela Zingl: „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden über die Situation unmittelbar informiert. Der Krankenhausbetrieb lief innerhalb des Klinikums normal weiter.“

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Sind wir tatsächlich schon so weit?

Sicherheitsbehörden rechnen mit Racheakten

Kriminelle Familienclans sind kein neues, aber ein offenbar immer drängenderes Problem in Deutschland. Die Remmos, Rammos, Al-Zeins, Abou-Chakers oder Miris – Großfamilien mit arabischen Wurzeln – mischen Ermittlern zufolge vor allem in Berlin und Bremen, in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen in gewinnträchtigen Bereichen der organisierten Kriminalität mit.

Zur Beerdigung von Nidal R. kamen 2000 Menschen, darunter Vertreter aller Berliner Clans. Ob seine Mörder aus ihren Reihen kamen oder von außen, etwa aus kurdischen oder tschetschenischen Gangster-Gruppen, ist Gegenstand vieler Spekulationen. Die Szene ist in Aufruhr, die Sicherheitsbehörden rechnen mit Racheakten.

Clanchef Issa R. auf der Beerdigung von Nidal R. in Berlin.

Clanchef Issa R. auf der Beerdigung von Nidal R. in Berlin.

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Wie schwer es ist, den Fängen der Clans zu entkommen, hat gerade der Rapper Bushido erfahren. Um sich vom Abou-Chaker-Clan zu lösen, bedurfte es einer Allianz mit einem anderen mächtigen Beschützer: Bushidos neuer Berater ist Ashraf Rammo, Teil der zurzeit auffälligsten Neuköllner Familie. „Wenn Ashraf nicht wäre, wäre uns schon längst etwas passiert“, sagt Bushidos Ehefrau Anna-Maria im gemeinsamen „Stern“-Interview.

„Die Täter verhalten sich nach Stammesregeln“

Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass die Clans in Deutschland insgesamt rund 200 000 Mitglieder haben, so Schätzungen des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2015 – von denen aber längst nicht alle kriminell sind. Berlin mit 20 arabischen Großfamilien, die 9000 Angehörige hinter sich vereinigen, gilt als Hochburg der Clankriminalität.

Dirk Jacob, der als Dezernatsleiter für organisierte Bandenkriminalität im Berliner Landeskriminalamt zuständig ist, sagt: „Diese Straftäter gehören einer Parallelgesellschaft an. Sie verhalten sich quasi nach Stammesregeln. Deutsche Werte und Normen, vor allem Rechtsinstanzen und Behörden, werden einfach nicht anerkannt.“ Jacobs Behörde geht davon aus, dass allein zwölf Großfamilien für fast ein Viertel der Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität in der Hauptstadt verantwortlich sind.

Die Anklage lautet auf Mord

Nicht alle Mitglieder einer Famlie seien in die Machenschaften ihrer Verwandten verstrickt, betont auch Ma­thias Rohe, Leiter des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa, der für eine Studie Berliner Clanmitglieder interviewt hat. Bei allen stehe jedoch Loyalität zur Familie an erster Stelle: „Da nimmt man auch mal Taten auf sich und geht für andere ins Gefängnis.“

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Viele dieser Familien lebten früher auch im Libanon am Rande der Gesellschaft, in Grenzregionen, in die die Staatsmacht nicht reichte. Dort war der unbedingte Zusammenhalt der Familie überlebenswichtig – hier wird er zum Problem für den Rechtsstaat.

Ob Ismail R. (20) hinter Gitter muss, darüber verhandelt gerade die Jugendkammer des Landgerichts Berlin. Die Anklage lautet auf Mord. R. soll mit anderen im Mai 2017 Ali O. mit einem Baseballschläger totgeschlagen haben. Angeblich ging es dabei um ein nicht bezahltes Darlehen über 128 000 Euro und undurchsichtige Immobiliengeschäfte. Die Mittäter sind unbekannt, der Angeklagte schweigt.

Der Raub einer 100-Kilo-Goldmünze aus dem Bode-Museum

Sein Vater, Clanboss Issa R., galt zunächst als Anstifter des Mordes. Dieses Verfahren wurde eingestellt, es fanden sich keine Beweise. Familienmitglieder sitzen auf den Zuhörerbänken des Gerichtssaals und verfolgen jede Zeugenaussage aufmerksam. Reden wollen sie nicht, sagt ein Bruder Ismails. Nur so viel: „Alles wird gut.“

Demnächst stehen drei weitere Mitglieder des Clans wegen einer anderen spektakulären Straftat vor Gericht. Ahmad, Wayci und Wissam R. sollen im März 2017 die 100 Kilo schwere Goldmünze „Big Maple Leaf“ aus dem Berliner Bode-Museum gestohlen haben. Die Täter kamen über die S-Bahn-Gleise. Solche spektakulären Taten sind beliebt bei den Clans – auch der Überfall auf die Juwelierabteilung des KaDeWe 2014 und der Pokerraub am Potsdamer Platz 2010 gingen auf das Konto Berliner Clans.

Die Täter werden jünger

Auch die mutmaßlichen Münzdiebe werden vermutlich vor einer Jugendkammer stehen. Schon seit Längerem beobachten Ermittler: Die Täter werden immer jünger.

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Für die Jüngsten ist Falko Liecke zuständig. Der CDU-Politiker ist Jugendstadtrat in Berlin-Neukölln und vor Kurzem medienwirksam mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit getreten: „Nehmt den Clans die Kinder weg!“ Boulevardmedien griffen den Appell begierig auf, als Mischung aus Strafe und Sippenhaft. Doch bei einem Rundgang durch seinen Bezirk beschreibt Liecke, was er wirklich meint. „Wir müssen versuchen, die Kinder zu erreichen, bevor sie eine Straftäterkarriere einschlagen“, sagt er. Dazu könnte auch gehören, sie für eine gewisse Zeit aus den Familien zu nehmen. „Aber die Maßnahme muss vor den Familiengerichten Bestand haben, sonst hat der Rechtsstaat ein weiteres Mal das Gesicht verloren.“

Sanktionen der Eltern: keine

Wie früh die Karrieren beginnen, zeigt der Fall eines Neunjährigen aus der Familie R. Er schlägt schon in der Grundschule seine Lehrer, drückt den Kopf eines Mitschülers in eine vollgekotete Toilette, klaut. Sanktionen der Eltern: Fehlanzeige. Bei einem 18-Jährigen aus der Familie ist die Strafakte schon vier DIN-A4-Seiten dick. Jugendarrest, Heimaufenthalt, alles hat er durch. Als Fazit steht darunter: „Er ist durch keine Maßnahme der Strafverfolgungsbehörden zu beeindrucken.“

Jugendstadtrat Falko Liecke beim Rundgang durch Neukölln.

Jugendstadtrat Falko Liecke beim Rundgang durch Neukölln.

So weit dürfe es nicht mehr kommen, sagt Liecke beim Gang durch seinen Bezirk. Er stoppt vor einem mit Graffiti beschmierten Mehrfamilienhaus: „Hier wohnen einige aus der Familie R.“ Nach ein paar Minuten drängt er zum Weitergehen: „Ich möchte hier nicht so lange stehen bleiben.“ Ein paar Momente später, an einer belebten Straßenecke, zückt jemand sein Handy, filmt die Situation. „Wir stehen hier wie auf dem Präsentierteller“, sagt Liecke und drängt abermals zum Aufbruch.

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Zunehmend aber, und das ist die gute Nachricht, wehren sich deutsche Behörden gegen die vermeintlich Unantastbaren. Seit vergangenem Jahr ist es Ermittlern nach einer Gesetzesänderung leichter möglich, auf Vermögen zuzugreifen, das aus kriminellen Handlungen stammt. Bis dahin hatten sie es konkreten Straftaten zuordnen müssen. Gerade Berlin demonstrierte in den vergangenen Wochen Härte. Bei einer Razzia beschlagnahmte die Berliner Polizei an 13 Orten in Berlin und Brandenburg 77 Immobilien. Wert: 9,3 Millionen Euro. Es wird vermutet, dass viele der Objekte von libanesischen Strohmännern für die Großfamilie R. erworben worden waren. Das Geld könnte aus einem millionenschweren Einbruch kommen.

Berliner Polizisten bei einer Razzia Anfang September in Berlin.

Berliner Polizisten bei einer Razzia Anfang September in Berlin.

„Bahnfahren ist uncool“

Wie viele der Immobilien schließlich rechtswirksam eingezogen werden können, ist noch längst nicht klar. „Wir mussten aber jetzt handeln“, sagt die Berliner Oberstaatsanwältin Petra Leister. „Jetzt ist die Zeit, in der illegales Geld durch solche Geschäfte zu legalem Geld wird.“ Ohnehin ist die Abschöpfung rechtswidrig erlangter Vermögenswerte gerade das Lieblingsinstrument des Staates. „Statussymbole sind gerade für die jungen Männer bedeutsam“, erklärt Leister. „Ohne Rolex und teures Auto möchte man ungern das Haus verlassen. Bahnfahren ist uncool.“

Sie kennt sich in der Szene aus wie kaum eine andere. Bei Razzien in Shisha-Bars und Lokalen läuft Leister mit der Polizei mit, merkt sich Gesichter, Lieblingsorte, Beziehungen. Für spätere Ermittlungen kann jedes Detail wichtig sein.

Den Behörden fehlte die Kraft

Niedersachsens Behörden arbeiten seit März dieses Jahres nach einer „Landesrahmenkonzeption“: Sie soll für ein frühes, konsequentes und einheitliches Vorgehen gegen Clankriminalität sorgen – und sieht unter anderem Platzverweise sowie die Sicherstellung und Beschlagnahme der bei Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten genutzten Fahrzeuge vor.

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In Berlin existiert eine solche Definition noch nicht. Erst jetzt gibt es erste Ideen, wie die vier besonders betroffenen Bundesländer zusammenarbeiten könnten. Warum nicht schon längst? Der Berliner SPD-Abgeordnete Tom Schreiber hat darauf eine ernüchternde Antwort: „In den Behörden fehlte die Kraft, und in der Politik der Wille.“

„Eine Aushöhlung des Rechtsstaats“

Schon vor zwei Jahren entwickelte Schreiber ein 40-Punkte-Papier gegen organisierte Kriminalität. Darin findet sich auch schon der Punkt, mit dem jetzt Falko Liecke Schlagzeilen machte: Die „Inobhutnahme“ bei „problembelasteten Familien“. Resonanz damals: gleich null.

Jetzt fordert Schreiber eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe, ähnlich wie bei der Rockerkriminalität. Denn die Clans sind für ihn längst kein lokales Thema mehr und auch keines, das nur vier Bundesländer betrifft.

Mit der Warnung vor „Berliner Verhältnissen“ lassen sich auch in Bayern und Sachsen am rechten Rand trefflich Stimmen sammeln, warnt Schreiber. „Wir erleben eine Aushöhlung des Rechtsstaats, das ist eine Gefahr für die Demokratie“, sagt er. „Das haben diejenigen, die politische Verantwortung tragen, zu lange ignoriert.“

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Von Thoralf Cleven und Jan Sternberg

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