Deutschlands vergessene Freiheitskämpfer
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Diese Federlithographie von Theodor Hosemann zeigt den sechzehnjährige Revolutionär Ernst Zinna, der eine Barrikade bei den Berliner Straßenkämpfen im März 1848 verteidigt.
© Quelle: picture alliance / akg-images
Berlin. Freude und Leid, Freiheit und Unterdrückung, Leben und Tod: Wer an einem Sommersonntag durch den Volkspark im Berliner Stadtteil Friedrichshain schlendert, ahnt kaum, wie nahe das alles beieinanderliegt – auch gerade an diesem Ort. Familien grillen, Läufer schwitzen, Kinder quietschen vor Freude. Alles normal – oder?
Ein Hinweis darauf, wie wenig selbstverständlich das vermeintlich Selbstverständliche ist, findet sich an der südlichen Parkgrenze. Abseits des Trubels, versteckt hinter einer Mauer, fällt der Blick auf eiserne Kreuze, Grabplatten und Denkmäler: ein Friedhof. Menschen haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden. Mehr als 170 Jahre sind seit ihrem Tod vergangen.
Es war am 18. März 1848, als in Berlin die Bevölkerung rebellierte. Armut und Perspektivlosigkeit spielten dabei eine Rolle, Nachrichten von Revolutionen aus dem Ausland, vor allem aber die Sehnsucht nach Freiheit – die der Rede, der Presse, der Versammlung, der Vereinigung, der Justiz.
Die Regierung des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. reagierte erst mit Verständnis und dann mit Härte. Soldaten marschierten auf, die Demonstranten errichteten Barrikaden, schließlich eröffnete die Armee das Feuer. Mehr als 200 Zivilisten starben bei den Kämpfen, die meisten von ihnen waren Handwerksgesellen und junge Industriearbeiter.
Friedhof wurde zur Pilgerstätte der Demokratie
Die Opfer jener Märzrevolution waren Freiheitskämpfer. Menschen, die für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ihr Leben gelassen haben. Schon den Zeitgenossen war das bewusst. Mehr als 100 000 Menschen sollen an der Trauerfeier teilgenommen haben. Die Beisetzung auf dem Gräberfeld am damaligen Stadtrand geriet zum Symbol der Demokratiebewegung. Der Friedhof der Märzgefallenen wurde ihre Pilgerstätte und blieb es. Nach der zweiten deutschen Revolution im November 1918 wurden erneut Opfer auf dem Gräberfeld beigesetzt – auch um die Verbindung der beiden Ereignisse zu betonen.
„Orte wie der Friedhof der Märzgefallenen rücken ins Bewusstsein, wie hart Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte oft erkämpft werden mussten”, sagt die Kulturstaatsministerin im Bundeskanzleramt, Monika Grütters (CDU). “Und sie erinnern daran, dass viele Menschen ihr Eintreten für Demokratie mit dem Leben bezahlen mussten.”
Der Berliner Friedhof ist ein Ort deutscher Demokratiegeschichte – aber beileibe nicht der einzige. Überall im Land gibt es Plätze und Gebäude, die von Mut, Hingabe und Opferbereitschaft im Kampf für die Demokratie zeugen. Einige dieser Orte stehen in jedem Geschichtsbuch, etwa das Hambacher Schloss wo sich die bürgerliche Opposition 1832 zum Hambacher Fest zusammenfand. Oder die Nikolaikirche in Leipzig, deren Friedensgebete im Herbst 1989 Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen und damit der friedliche Revolution in der DDR waren.
Wieder andere Orte der Demokratiegeschichte sind eher in ihren jeweiligen Regionen bekannt. Das Hoffmann-von-Fallersleben-Museum in Wolfsburg etwa, das sich mit dem Kampf des Dichters der deutschen Nationalhymne für eine liberale und gerechte Gesellschaft befasst. Oder der Landtag Lippe in Detmold, ein ehemaliges Parlament, dessen ständische Vorläufer bis in die frühe Neuzeit reichen.
Insgesamt 100 Orte umfasst eine Liste, die der Verein „Weimarer Republik” im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft „Orte der Demokratiegeschichte” erarbeitet hat. Die Arbeitsgemeinschaft besteht seit 2017, in ihr haben sich mehr als 40 Einrichtungen von Erinnerungsorten zusammengeschlossen. Viele Orte werden von Ehrenamtlichen gepflegt.
Längst nicht alle Freiheitskämpfer waren erfolgreich
Alle Orte haben gemeinsam, dass sich an ihnen erfahren lässt, wie Menschen die Demokratie erkämpft, verteidigt und gestaltet haben. Doch längst nicht alle Bestrebungen waren erfolgreich. Im Gegenteil: Die deutsche Demokratiegeschichte ist auch eine Geschichte schmerzhafter Rückschläge und grausamen Scheiterns. Die bei der Revolution von 1848/1849 erkämpften Freiheiten währten nicht lange, schon nach ein paar Monaten nahmen die deutschen Fürsten ihre Zugeständnisse wieder zurück. Auf die hoffnungsvollen Jahre der Weimarer Republik folgte die Katastrophe des Nationalsozialismus.
Angesichts dieser monströsen Abgründe fristete die Freiheitstradition der deutschen Geschichte in der öffentlichen Betrachtung bislang eher ein Nischendasein. Zu Unrecht finden Ehrenamtliche, Historiker, Lokalpolitiker – und findet auch der Bundespräsident. „Ich meine, wir haben unsere Freiheits- und Demokratiegeschichte in unserem Denken über Zukunft zu lange vernachlässigt, und das sollten wir ändern”, schrieb Frank-Walter Steinmeier 2019 in einem Beitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“.
Demokratiegeschichte sei keine Konkurrenz zum Erinnern an den Holocaust und die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs, sondern müsse im Wissen um die Diktatur und ihre Wurzeln verstanden werden: „Was sich nicht wiederholen soll, darf nicht vergessen werden. Aber auch an das, was Vorbild war, was Bestand und Zukunft haben soll, muss erinnert werden.“
Inzwischen hat sich auch der Deutsche Bundestag dieser Sichtweise angeschlossen. Kurz vor der Sommerpause haben die Parlamentarier die Gründung einer Bundesstiftung „Orte der deutschen Demokratiegeschichte” beschlossen, die die Auseinandersetzung über das Thema in Gesellschaft, Bildungseinrichtungen und Wissenschaft fördern soll. „Durch eigene Aktivitäten und Fördermaßnahmen sollen Orte, die mit dieser Demokratiegeschichte verknüpft sind und symbolhaft für die demokratische Tradition in Deutschland stehen, noch stärker in das öffentliche Bewusstsein gerückt werden”, heißt es in dem Gesetz.
Kritik an fehlenden Orten im Osten
Es gab eine breite Mehrheit für die Gründung der Stiftung, Kritik gab es allerdings auch. Grüne und Linke enthielten sich bei der entscheidenden Abstimmung. Sie kritisierten, dass sich der Gesetzentwurf vor allem auf repräsentative Orte und Bauwerke im Westen der Republik fokussiere. Viele kleine Orte, die im Zusammenhang mit der friedlichen Revolution im Osten eine Rolle gespielt hätten, fielen dagegen durchs Raster.
Der ehemalige Chef der Unionsbundestagsfraktion, Volker Kauder, räumt ein, dass in dieser Hinsicht Nachholbedarf besteht. Im Osten gebe es viele Orte, deren Bedeutung für die friedliche Revolution und die Entwicklung der Demokratie nicht ausreichend gewürdigt würden, sagte Kauder dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. Die Stiftung habe noch eine Menge Arbeit vor sich. Kauder will dabei mitmachen und sich nach dem Ausscheiden aus dem Bundestag im Stiftungsrat engagieren.
3 Millionen Euro sind im Bundeshaushalt 2021 für die Stiftungsarbeit vorgesehen, danach sollen die Mittel auf etwa 10 Millionen Euro jährlich anwachsen. Im Vergleich zu den Hunderten Millionen, die jährlich in den Erhalt von Schlössern, Kirchen und anderen kulturhistorischen Denkmälern fließen, fällt der Betrag eher bescheiden aus. Aber er ist ein Anfang.
Carsten Schneider, Fraktionsgeschäftsführer der SPD, ist froh, dass dieser nun gemacht ist. Aus seiner Sicht ist die intensive Auseinandersetzung mit Geschichte nötig, um den Wert der Demokratie zu begreifen und antidemokratische Tendenzen frühzeitig zu erkennen. „Immer mehr Menschen halten die Demokratie für eine Selbstverständlichkeit”, sagt er. „Doch das ist sie nicht.” Demokratien hätten keine Ewigkeitsgarantie, sie könnten auch zerstört werden, warnt er. „Wir müssen wachsam sein.”