Die monströse Mathematik der Coronakrise

Ein Notfall-Helfer desinfiziert einen Bahnhof in Granada.

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Ende voriger Woche, am Freitagmorgen, blickten die Mitglieder des Corona-Krisenstabs in Bayern auf eine Zahl, die ihnen überhaupt nicht gefiel: 35 Prozent.

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Die Zahl beschrieb die zuletzt gemessene Zuwachsrate bei Coronafällen in Bayern. Jeder hatte zwar erwartet, dass das Virus sich immer weiter verbreiten würde. Aber das jetzt erreichte Tempo machte den Politikern Angst. Denn der Anstieg um 35 Prozent geschah nicht etwa im Laufe eines Monats oder einer Woche, sondern eines einzigen Tags: von Donnerstag auf Freitag.

“Wir fahren jetzt das öffentliche Leben für zunächst 14 Tage fast vollständig herunter”, sagte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder wenige Stunden später bei einer Pressekonferenz. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hatte ein Bundesland flächendeckende Ausgangsbeschränkungen verhängt.

Historische Premieren häufen sich derzeit. Nur zwei Tage später, bei einer per Video ins Kanzleramt geschalteten Konferenz mit den Ministerpräsidenten, folgte die Einigung auf ein bundesweites Kontaktverbot. Ansammlungen von mehr als zwei Menschen sind seither untersagt. “Dies sind keine Empfehlungen, sondern Regelungen”, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Zuwiderhandlungen werde der Staat bestrafen.

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Bund und Länder wollen jetzt die Ausbreitung des Virus durch hartes Gegensteuerns in einem mathematisch wie politisch besonders prekären Moment bremsen: Ob das Abflachen der Kurve in Deutschland gelingt, entscheidet sich nicht irgendwann, sondern exakt in diesen Tagen.


“Flatten the curve” – dieses Ziel verfolgen inzwischen alle Regierungen der Welt: Weil ein Gegenmittel fehlt, bleibt keinem Staat etwas anderes übrig, als die langfristig wahrscheinlich unabwendbare Infektion von 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung hinzunehmen; dann ist die sogenannte Herdenimmunität erreicht, und die Infektionswelle läuft aus. Entscheidend ist es, den Weg bis zu diesem Punkt zeitlich so sehr zu strecken, dass in allen medizinisch schweren Fällen optimal geholfen werden kann.

Die Chance auf einen solchen noch halbwegs beherrschbaren Verlauf hat Deutschland offenbar noch gewahrt, trotz mancher anfänglicher Verzögerungen und Unzulänglichkeiten. “Wir könnten in Deutschland die Kurve kriegen”, sagt der Charité-Virologe Christian Drosten.

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Schaffen wir das? Zwar steigt die Zahl der Infektionen in Deutschland gerade steil an. Dies ist der Grund, warum der Chef des Robert-Koch-Instituts in Berlin, Lothar Wieler, sich am Ende voriger Woche düsterer äußerte denn je: “Wir alle sind in einer Krise, die ein Ausmaß hat, das ich mir selber nie habe vorstellen können.” Allerdings erschien der Anstieg schon am Montag nicht mehr so extrem steil wie zuvor - auf eine definitive Bewertung dieses Trends will Wieler sich aber erst am Mittwoch dieser Woche einlassen. Zudem ist das rechnerische Verhältnis zwischen registrierten Corona-Infizierten und registrierten Corona-Toten in Deutschland weitaus günstiger als in anderen Staaten der Welt.

Die besten Vergleichsmöglichkeiten bietet eine rund um die Uhr aktualisierte Übersicht der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, USA. Hier fließen laufend Informationen aus Gesundheitsämtern und Universitäten aus aller Welt zusammen.

Deutschland liegt derzeit (Stand: Montag, 23. März, 19 Uhr) mit 28.784 Infizierten hinter China, Italien, USA und Spanien auf Platz fünf der weltweiten Tabelle. Zugleich zählt Deutschland 115 Corona-Tote.

Nirgendwo auf der Welt können alle Infektionen registriert werden, überall gibt es hohe Dunkelziffern. Das gilt vor allem für Italien (59.138 Infizierte / 5476 Tote) und Spanien (33.089 Infizierte / 2206 Tote), wo offenbar nur ein besonders kleiner Bruchteil der Infizierten registriert wurde: Das Gesundheitswesen und seine Meldesysteme wurden von der Viruswelle überrollt. In Deutschland, das später dran ist, besteht noch die Chance zu einem Gegensteuern, bevor die Totenzahlen eskalieren.

Noch nie in der Geschichte hatte eine mathematische Kurve eine so schicksalhafte Bedeutung für alle Deutschen: Bund, Länder und Gemeinden arbeiten jetzt mit aller Macht daran, ihren Verlauf wenigsten etwas nach unten zu biegen. Was heute getan wird, entfaltet seine medizinischen Wirkungen aufs Infektionsgeschehen immer erst zwei Wochen später. Für Anfang April erhofft sich das Kanzleramt Zeichen einer Wirksamkeit der inzwischen verhängten Maßnahmen.

“Die Zahlen werden auch dann noch weiter steigen”, sagt Kanzleramtschef Helge Braun. “Aber nicht mehr so steil.”

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Am Ende jedenfalls wird alles zu einer Zahl. Jeden Tag hantieren die Verantwortlichen mit neuen Tabellen. Klappt es mit dem Bremsen der Infektionen? Wie verläuft der Ausbau der intensivmedizinischen Kapazitäten? Und, besonders wichtig: Wie viele Todesopfer gibt es?


Nie lagen weltweit die Erfolge oder Misserfolge von Regierungen so offen zutage wie jetzt, rund um die Uhr einsehbar im Internet.

Noch bevor etwa Italien auch nur die Zeit fand, sich eine Strategie zu überlegen, wurde das Land von der Viruswelle erwischt wie von einem Tsunami. Inzwischen muss Italien Tag für Tag Totenzahlen hinnehmen wie Hammerschläge. Am Mittwoch voriger Woche waren es 475 Tote. Am Donnerstag weitere 427. Am Freitag 627. Am Sonnabend fast 800. Die Gesamtzahl der Toten in Italien liegt bei 5475 und damit deutlich höher als in China (3274).

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Die Mathematik der Krise hat etwas Makabres. Aber sie schafft immerhin Klarheit, auch über sonst so diffus klingende Kategorien wie Betroffenheit.

“Liebe Kollegen, hört bitte auf, China als das am stärksten betroffene Land zu bezeichnen”, bat schon zu Beginn der Woche ein Zeitungsredakteur aus Köln die Zentrale der Deutschen Presse-Agentur in Berlin.

Tatsächlich fällt, politisch wie emotional, auch das rechnerische Verhältnis zwischen Todesopfern und Gesamtbevölkerung ins Gewicht. In Italien leben 60 Millionen Menschen, in China 1,3 Milliarden.

Das Schicksal der Italiener hat eine Glocke geläutet, weltweit. Sogar die USA, wo Präsident Donald Trump wochenlang all jene anführte, die über das Virus nur lächelten, gehen jetzt in die Kurve. Es könnte allerdings sein, dass dort viele Maßnahmen viel zu spät kommen.

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Die jüngsten Kurvenverläufe verheißen den amerikanischen Krisenstäben nichts Gutes. Die Supermacht wirkt, als sei auch sie auf Weg, vom Virus überwältigt zu werden:

  • Noch zu Beginn des Monats höhnte Trump, es gehe ja nun wirklich um “sehr kleine Zahlen” von Infizierten, um “15 Leute in dieser riesigen Nation”.
  • Inzwischen aber explodieren die Zahlen quer durchs Land, mit einem Schwerpunkt in der Millionenmetropole New York.
  • Frappierend ist in den USA vor allem der schnelle Anstieg der Totenzahlen. In der Nacht zum Mittwoch meldete der Sender CNN erstmals mehr als 100 Tote. Am Freitag waren es 205. Am Montagabend veröffentlichte die Johns-Hopkins-University dann eine neue Gesamtzahl: 479 Tote.
  • Zwar haben einige Staaten Ausgangsbeschränkungen erlassen, Kalifornien etwa und New York. Anderswo aber, etwa an den Stränden Floridas, hockten Amerikaner immer noch fröhlich zusammen und feierten Partys, darunter viele Studenten in ihren Frühlingsferien, dem alljährlichen “spring break”. Wissenschaftler warnen, gerade die Jüngeren könnten jetzt “Super-Spreader” werden und in den nächsten zwei Wochen das Virus massiv verteilen.

“Die größte Unzulänglichkeit der Menschheit ist ihre Unfähigkeit, exponentielles Wachstum zu verstehen” – mit diesem Lehrsatz zog der amerikanische Mathematiker Albert Bartlett (1923 – 2013) zeitlebens durch die Lehrsäle.

Dass Viren sich exponentiell ausbreiten, macht sie doppelt gefährlich: Am Anfang unterschätzt man sie – und dann kommt irgendwann eine Welle, die alles überwältigt.

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Das bei Mathematikern beliebte Algen-Beispiel zeigt die Dynamik. Würden Algen sich jeden Tag verdoppeln und nach 30 Tagen einen See komplett bedecken, wäre an Tag 29 der See zur Hälfte bedeckt, an Tag 28 nur zu einem Viertel. Geht man zurück zu Tag 25, wären nur 3,125 Prozent des Sees bedeckt. Wer würde in diesem Moment schon Alarm geben? Vor allem die Demokratien, stets an den Wahrnehmungen und Stimmungen der Mehrheit orientiert, tun sich da schwer.

Die monströse Mathematik der Viruskrise kann leicht verkannt werden. Eine Gesellschaft aber,, die tagelang Chancen verpasst, die Kurve flach zu halten, zahlt am Ende einen gewaltigen Preis. In Großbritannien, wo anfangs ein sehr laxer Kurs eingeschlagen wurde, warnten Wissenschaftler vom Imperial College in einem geheimen Bericht ans Nationale Gesundheitssystem NHS vor 260.000 Toten.

In den USA ist nach Meinung von Wissenschaftern auch ein Übergang von sechsstelligen zu siebenstelligen Zahlen von Todesopfern nicht ausgeschlossen. Dr. Anthony Fauci, der ranghöchste staatlich bezahlte US-Virologe, wurde im Fernsehsender CNN gefragt, ob es sein könne, dass in den USA Hunderttausende am Corona-Virus sterben. Seine Antwort ließ die Zuschauer schaudern: “Das könnte sein - und es könnte auch noch schlimmer kommen.”


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Sollten sich die Infektionswellen in den USA und in Großbritannien so stark ausbreiten, wie viele Wissenschaftler glauben, geht es um weit mehr als nur die Frage, ob Trump und Johnson sich im Amt halten können. Die schiere Macht der Zahlen würde dann zwei der wichtigsten Gesellschaften der freien Welt vollständig ins Wanken bringen.

China dagegen meldet, dass in seiner Krisenregion inzwischen keine neuen Infizierten registriert werden. Auch diese Vergleichsrechnung gehört zur Mathematik der Krise: Es häufen sich Hinweise, dass das Virus die Welt verändern könnte.


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