Kein Anschluss unter dieser Nummer – das Ende der Telefonzelle
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Aufgelegt: Am Rand von Michendorf bei Berlin lagern alte Telefonzellen – die gelben sind bereits verkauft.
© Quelle: Ralf Hirschberger
Es dauert nicht mehr lange, bis Telefonzellen nur noch hier in freier Wildbahn vorkommen werden, in einem Waldstück bei Michendorf am Berliner Autobahnring. Hunderte magenta-graue Zellen stehen zwischen dem Kiefernforst und einer Gewerbehalle, einige mit zerstörten Scheiben, viele mit Grünspan überzogen.
In den Michendorfer Wald kommt die Telefonzelle zum Sterben. Ihr Ende ist besiegelt, nach 142 Jahren. 1881 wurde der erste Fernsprechkiosk in Berlin aufgestellt. Noch im Januar wird die Telekom an den verbliebenen Telefonsäulen im Land die Zahlungsfunktion mittels Telefonkarten abschalten. Münzzahlung ist bereits seit November nicht mehr möglich. Die öffentlichen Fernsprecher werden stumm.
Im Alltag wird sie kaum jemand vermissen, die meisten Menschen werden sie im öffentlichen Raum zwischen Werbewänden, Straßenschildern und Parkplätzen kaum noch wahrgenommen haben. Dabei gibt es sage und schreibe noch 12 .000 öffentliche Telefone in Deutschland.
Die schwach leuchtende Säule der letzten Generation
Eines von ihnen steht am Fuße des Pegelturms an den St.-Pauli-Landungsbrücken in Hamburg, direkt neben der Überführung zum U‑ und S-Bahnhof. Schwach leuchtet das Telekom‑T auf dieser Säule der letzten, abgespeckten Generation: Keine Zelle mit Tür mehr, nur noch ein schmales Glasdach und ein Wetterschutz auf einer Seite. Sie ist Symbol der privatisierten Telekom der 1990er-Jahre. Solche Säulen werden nie ein Nachleben finden wie die klassischen gelben Häuschen und ihre grauen Nachfolgerinnen, die via Michendorf dann doch den Weg zurück in ein zweites Leben angetreten haben: meist auf den Stadtplätzen oder auf Schulhöfen als öffentliche Bücherboxen, manchmal auch in privaten Vorgärten als Gewächshäuser oder (mit Sichtschutz) sogar als Toilettenhäuschen.
Ein Telefonbuch im Halter hat diese letzte Generation öffentlicher Telefone natürlich ebenfalls nicht mehr. Und auch wenn sie nicht mehr den öffentlich zugänglichen, aber abgeschlossenen Raum der klassischen Telefonzellen darstellt, schafft es selbst diese letzte traurige Säule an der Elbe, den strengen Geruch des öffentlichen Fernsprechumfelds zu verströmen. Getrocknete Pfützen am Boden scheinen nicht nur vom Nieselregen zu stammen, und eine einzelne schwarze Socke liegt surreal drapiert auf der flimsigen Ablage unter dem Fernsprecher. Alles wie immer, alles wie früher: Ein Ort, an dem man besser keine Fragen stellt, welche Vorgänger dort was genau getan haben.
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Intimste Geständnisse im öffentlichen Raum
Zwischen Schweiß, Rauch und Urin ging es in der Telefonzelle stets um zweierlei: genug Kleingeld dabei zu haben – und die Umgebung auszublenden für ein paar Minuten dringender, kurzgefasster Nähe. Die Generation Z würde dafür eine Sprachnachricht vom horizontal vor die Lippen gehaltenen Smartphone senden. Vielleicht war da selbst die Telefonzelle würdevoller.
„Ja, Mama, es geht mir gut auf der Klassenfahrt.“ So ging das damals. Oder: „Nein, ich komme nicht zum Abendessen.“ Und schließlich: „Ja, Schatz, ich vermisse dich wahnsinnig, doch jetzt ist das Geld alle, wir sehen uns am Freitag.“ Anstellen, Münzen einwerfen, wählen, tuten lassen, keiner zu Hause, auflegen. Sich wundern: Warum fehlt ein Groschen im Geldrückgabefach – oder warum liegt plötzlich eine Münze mehr drin?
Die mit fast 90 Jahren älteste noch aktive Zelle Berlins steht ganz im Norden der Stadt, in der dorfähnlichen Siedlung Lübars, hinter der das ländliche Brandenburg beginnt. Kopfsteinpflaster gibt es hier und ein altes Gebäude, auf dem zu lesen ist: „Gasthof & Ausspannung Alter Dorfkrug“. In Wurfweite befindet sich noch dazu eine kleine Kirche, sie ist immerhin mehr als 250 Jahre alt. Nicht nur viele Gehöfte in Lübars stehen unter Denkmalschutz, auch die Telefonzelle des Typs FeH 32 der einstigen Reichspost ist in der Berliner Denkmalliste eingetragen. Sie wird dem Schicksal der Fernsprechervorhölle Michendorf entgehen. Denn sie hat längst eine neue Funktion angenommen.
Erinnerung an andere Zeiten
Aus der nach alter Sitte gelben Zelle, die etwas breiter ist als die üblichen und die neben einem funktionsfähigen Telefonapparat noch viele Bücher beherbergt, tritt am zweiten Sonntag des Jahres Melanie Fischer in den hauchzarten Nieselregen. Die Studentin aus Berlin-Tegel, die derzeit ein Auslandssemester in der Schweiz absolviert, hat ein Buch in der Hand, geschrieben von Carol O‘Connell. Es ist ein Thriller und trägt den Titel „Kreidemädchen“.
Fischer, 22 Jahre alt, bekam erst in der vierten Klasse ein Handy. Bis dahin besaß sie eine Telefonkarte. Und wenn der Schulunterricht früher zu Ende ging als erwartet, lief das junge Mädchen damals in eine nahegelegene Telefonzelle, um seine Eltern anzurufen. Sie finde diese Zellen nicht eben schön, sagt Fischer. „Aber ich finde es gut, dass sie noch da sind – als Erinnerung an andere Zeiten.“ Und ihre Schließung sei riskant für Leute, die keinen Telefonapparat zu Hause hätten. In Lübars, das wirklich sehr verschlafen wirkt, könnte das tatsächlich noch der Fall sein.
Viele Zellen werden zu Bücherboxen
Zumindest dient auch die dortige Oldtimerzelle als Bücherbox. Und Melanie Fischer freut sich über die gute Auswahl. „Die schönsten Tiergeschichten der Welt“ finden sich darin ebenso wie „Doch die Liebe bleibt“ von Danielle Steel oder „Männer sind anders. Frauen auch“ von John Gray. Kaum hat die Studentin das umfunktionierte Regal verlassen, geht schon ein Mann mittleren Alters hinein, um den Bestand wieder aufzufüllen. Er trauert den scheidenden Telefonhäuschen nicht hinterher. „Das ist eine neue Zeit, natürlich“, sagt der Mann, der nur sein Geburtsjahr verraten will: 1972. Dann ist er schon wieder verschwunden.
Falsche Polizisten am Telefon: So bringen Trickbetrüger Senioren um ihr Geld
Quelle: LKA Niedersachsen
Wer in der alten Zeit in Studentenstädten eine der damals schon raren Wohnungen suchte, der wartete in der Nacht von freitags auf samstags an den Orten, wo die ersten Zeitungen ausgegeben wurden. Partner oder Freunde besetzten in der Nähe eine Zelle, um sogleich den Anbieter kontaktieren zu können.
Bei Auslandsreisen stellte sich die Herausforderung der Telefonie in der alten Zeit noch mal in ganz besonderer Weise. Wer zum Beispiel in den 1980er-Jahren nach Sizilien reiste und von dort ein kurzes Lebenszeichen senden wollte, der musste erstmal D-Mark in Lira tauschen. Ja, er brauchte ziemlich viele Lira, wenn nach zwei Sätzen nicht schon Schluss sein sollte. Mit der einen Hand den Hörer halten und mit der anderen Hand die Münzen nachwerfen, darin bestand die Übung. Und selbstverständlich: erst mal eine freie Zelle finden – was an Urlaubsorten keineswegs immer einfach war. Wurde die Schilderung komplexer Vorgänge erforderlich (etwa, weil es an dem einen oder dem anderen Ende der Leitung Probleme gab oder Geld fehlte), wurde fürs Telefonieren viel Knete benötigt – Knete, die bei kleinen Reisebudgets an anderer Stelle eingespart werden musste.
Ruf doch mal an!
In Deutschland veränderten sich später vom obrigkeitsstaatlichen „Fasse dich kurz!“ zum werbenden „Ruf doch mal an!“ die Aufschriften an den Glaswänden. Je mehr Menschen einen privaten Telefonanschluss hatten, desto kürzer wurden die Schlangen vor den gläsernen Häuschen.
Mit dem Aufkommen der Handys und Smartphones waren die Tage der Telefonzellen gezählt. Die Säulen dienen bis heute als WLAN-Hotspots – und die Telekom warb jahrelang damit, dass man von ihnen auch SMS verschicken konnte. Was mindestens so grotesk klingt, wie anzupreisen, dass sie gute Orte für Tiktok-Videos sein könnten. Kleindealer machten sich zunutze, dass Anrufe von Telefonzellen schlecht überwacht werden konnten – bis die Kriminellen dann auf Wegwerf-SIM-Karten umstiegen.
Der Kaufhauserpresser Arno Funke alias Dagobert war in den 1990er-Jahren der Letzte, der Großeinsätze der Polizei rund um Telefonzellen auslöste: Seine Erpresseranrufe führte er von öffentlichen Telefonen aus. Die Berliner Polizei ließ einmal 1100 Telefone vergeblich überwachen, ein anderes Mal 3900 Apparate.
Fehlt etwas, wenn die Säule fehlt? - „Nö!“
Auch die schmale Säule an den St.-Pauli-Landungsbrücken wird jeden Tag ganz genau beobachtet. Nicht von der Polizei, sondern von dem Ausrufer mit Schiffermütze, der Touristen zur Hafenrundfahrt locken will. „Joa, manchmal sehe ich da noch Leute stehen“, verrät er, „aber ob die da nun telefonieren oder nur Selfies machen, weiß ich nicht.“ Wird ihm etwas fehlen, wenn die Telekom-Säule am Pegelturm bald verschwindet? „Nö“, sagt der Ausrufer nur knapp.
Nun denn. Das Telekommunikationsgesetz verpflichtete die Telekom, öffentliche Telefone zu betreiben, seit 2021 ist der Passus im Gesetz gestrichen. „Durch die geringe Nutzung tragen die öffentlichen Telefone nicht mehr zu einer Grundversorgung der Bevölkerung bei“, teilt der Konzern mit. „Selbst für Notrufe sind die öffentlichen Telefone nicht mehr relevant. Auch hier übernimmt der Mobilfunk und unterstützt beispielsweise mit der Übermittlung der genauen Ortsangaben.“
Stromsparen ohne Telefonzellen
Laut Telekom verbraucht jedes öffentliche Telefon zwischen 500 und 1250 Kilowattstunden Strom pro Jahr – durch ihre Abschaltung ließen sich also insgesamt zwischen sechs und 15 Millionen Kilowattstunden einsparen. An den Landungsbrücken leuchtet das Display bloß noch schwach, gerade mal der Hinweis „Nur Telefonkarten“ ist in grauer Schrift auf grünem Hintergrund zu entziffern.
Nostalgiker verweist die Telekom auf das Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main, das 50 öffentliche Fernsprechhäuschen aus allen Epochen im Bestand hat. Und private Sammler bescheidet der Konzern kurz angebunden: „Der Kauf einer alten Telefonzelle ist leider nicht mehr möglich.“
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Grünspan des Vergessens: Telefonzellenfriedhof Michendorf
© Quelle: Jan Sternberg/RND
Ein Konzernsprecher bestätigt das: „Zurzeit gibt es keine Telefonzellen, die käuflich erworben werden können. Es sind keine da.“ Aber Moment mal, was ist denn mit den Hunderten magenta-grauer Häuschen im Kiefernforst zu Michendorf? Alle bereits reserviert, bescheidet der Konzernsprecher. „Wir bedienen damit unsere seit längerer Zeit bestehende, sehr lange Warteliste und verkaufen die Häuschen an die darin aufgeführten Interessenten.“
Kein Anschluss also mehr unter dieser Nummer.