Droht in den USA ein Bürgerkrieg?
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Waffen gehören in den USA immer häufiger zum Alltagsbild.
© Quelle: Adam Rogan/The Journal Times/AP/
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Der Tag der Wahl rückt in großen Schritten näher, und damit auch die bange Frage nach dem Danach. Was werden die Anhänger von Donald Trump tun, wenn dieser am 3. November aus dem Amt gewählt wird? Wie werden die Unterstützer von Joe Biden reagieren, wenn Trump im Amt verbleibt? Und was, wenn Tage, vielleicht sogar Wochen vergehen, in denen weder der eine noch der andere zum Sieger erklärt wird?
Diese Fragen treiben viele Menschen in Amerika um. Und manch einer hat darauf bereits eine Antwort: „Dann gibt es Bürgerkrieg.“ Mit dieser Behauptung beschäftigen wir uns heute.
„Dann gibt es Bürgerkrieg“ – diesen Satz hörte ich häufig, als ich in den vergangenen Tagen den Nordwesten des Bundesstaates Pennsylvania bereiste. Und jedes Mal versuchte ich zu ergründen, ob er bloß leicht dahingesagt ist, ein bisschen rhetorisches Drama. Doch meine Gesprächspartner schienen überzeugt davon, dass der Ausbruch von Gewalt ein realistisches Szenario ist. Liberale und Linke fürchten sich vor rechten Milizen. Rechte sehen in Black-Lives-Matter-Aktivisten und in der Antifa-Bewegung Sturmtrupps des von ihnen so verhassten liberalen Establishments. Die Angst ist real. Und damit wohl auch die Gefahr.
Waffen, Waffen, Waffen
Ein untrüglicher Gradmesser der Nervosität Amerikas sind seit jeher die Waffenverkäufe. Das Land schlägt jetzt seine eigenen, unrühmlichen Rekorde. 17 Millionen Waffen wurden bereits in diesem Jahr verkauft – so viele wie in keinem anderen Jahr, berichtet der britische „Guardian“. Nach Angaben des FBI fanden bisher in 2019 rund 80 Prozent mehr behördliche Überprüfungen von Waffenkäufern statt als im vergangenen Jahr. Die „New York Times“ hat ermittelt, dass von den zehn umsatzstärksten Wochen der Waffenverkäufer in den letzten 20 Jahren acht in dieses Jahr fielen. Und zwar in den Zeitraum seit März, mit Ausbruch der Corona-Krise, der Arbeitslosigkeit, der Kontaktbeschränkungen.
Seitdem gärt es im Land, die Stimmung ist explosiv. Zum Leid, das die Corona-Pandemie besonders über Afroamerikaner gebracht hat, kommt Massenarbeitslosigkeit ohne die Aussicht auf rasche Besserung hinzu. Immer wieder neue, gut dokumentierte Fälle von Polizeigewalt gegen Schwarze bestätigen und nähren den Generalverdacht gegen einen rassistischen Staat, von dem im Zweifel Gefahr und nicht Schutz zu erwarten ist.
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Demonstranten versammeln sich zu einem Protestmarsch nach dem Tod von Walter Wallace in Philadelphia. Polizisten im US-Bundesstaat Pennsylvania haben am 26. Oktober den 27-jährigen Schwarzen erschossen.
© Quelle: Matt Slocum/AP/dpa
Die daraus hervorgehenden Proteste nutzt wiederum der Präsident, um das Zerrbild von Chaos und Gewalt in den Städten unter angeblicher Duldung seines Herausforderers Biden zu zeichnen. Amerika, so scheint es, ist ein gefährlicher Ort. Zusätzlichen Anreiz zum Kauf von Waffen dürfte für viele die Aussicht auf einen Wahlsieg Bidens darstellen – wegen der dann wohl verschärften Waffengesetze.
Die USA sind gefangen in einer sich selbst beschleunigenden Spirale der Angst. Es fehlt an breit anerkannten Personen oder Institutionen, die dem Land die Angst nehmen könnten, ehe sie sich in Gewalt entlädt.
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Amerika erkennt sich selbst nicht wieder. Die Polarisierung in der Gesellschaft reicht mitunter so tief, dass die Menschen einander nur das Schlechteste unterstellen. Trump-Wähler sehen in Demokraten Verräter der amerikanischen Verfassung und umgekehrt. In dieser Weltsicht, die nur Schwarz oder Weiß kennt, erscheint Gewalt als legitimes Mittel zur Selbstbehauptung. Nachdem der 17-jährige Kyle Rittenhouse auf einer Anti-Rassismus-Demonstration zwei Demonstranten erschoss, kamen auf der Internetseite einer christlichen Gemeinde Hunderttausende Dollar für seine Verteidigung vor Gericht zusammen.
Radikalisierung in der Isolation
Gewiss ist nicht jeder Amerikaner mit starker Meinung gewaltbereit. Doch erst die Kompromisslosigkeit in der Debatte schafft das Klima, in dem sich Einzelne dazu berufen fühlen, ihrer Ideologie mit der Waffe Geltung zu verschaffen. Die Fähigkeit zum Austausch wiederum, zum Kompromiss, dürfte in den zurückliegenden Monaten der Isolation, die viele Menschen größtenteils allein vor Bildschirmen verbracht haben, nicht gerade zugenommen haben. Kriminologen gehen von einem Radikalisierungsschub aus.
Die Medien versuchen derweil, das gegenwärtige Schwanken der US-Demokratie historisch einzuordnen. Gab es das schon mal – eine Wahl, die in einen Bürgerkrieg mündete? Die „Washington Post“ ist fündig geworden: „Der Amerikanische Bürgerkrieg begann, weil die nationalistischen Sklavenhalter des Südens sich weigerten, die rechtmäßige Wahl Abraham Lincolns anzuerkennen.“
Das Southern Poverty Law Center zählt landesweit 181 gewaltbereite Milizen. Angesichts des konspirativen Charakters dieser paramilitärischen Gruppen dürfte deren tatsächliche Zahl größer sein. In der Geschichtsschreibung Amerikas genießen Milizen oft Legendenstatus – jedenfalls für die Zeit vor der Herausbildung des staatlichen Gewaltmonopols. Die heutigen selbsternannten Bürgerwehren sind im Kern nichts anderes als hochgerüstete Rechtsextreme.
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Im Sommer kam es in Michigan zu offenen Konfrontationen zwischen Mitgliedern der rechtsextremen Gruppe Proud Boys und Anti-Rassismus-Demonstranten.
© Quelle: -/MLive Media Group/AP/dpa
Die Szene sieht in Trump ihren Präsidenten. Als er im ersten TV-Duell davon sprach, die Proud Boys mögen sich „zurück- und bereithalten“, deuteten viele dies als Ermunterung. Die Verschwörungsideologen der Bewegung Qanon und die Rechtsextremen The Oath Keepers halten sich nach eigenem Bekunden bereit für den Fall, dass Trump die Wahl verliert. Dies sind Kräfte, die Eskalation wollen.
Gewiss bricht beim Einlaufen der Wahlergebnisse nicht gleich ein Bürgerkrieg aus. Aber Gewalt kennt viele Stufen. FBI und die Polizei im Land bereiten sich auf Konfrontationen in den Wahllokalen vor. Der Präsident selbst rief seine Unterstützer dazu auf, dort gegen vermeintliche Manipulationen vorzugehen. Der Bundesstaat Michigan, dessen Gouverneurin jüngst im Zentrum eines Kidnapping-Plots rechter Milizionäre stand, hat eiligst den Urnengang mit Waffe verboten. Eine Meldung, die wohl weniger erstaunlich ist als die Tatsache, dass Wählen mit Waffe jemals erlaubt war.
Zahlen vor den Wahlen
Der US-Präsidentschaftswahlkampf biegt jetzt in die Zielgerade ein – mit Biden als klarem Favoriten. Landesweit liegt der Kandidat der US-Demokraten im Umfragedurchschnitt 9 Prozentpunkte vor dem Republikaner Trump. Weil es aber am Ende auf die Swing States ankommt, versucht Biden auf den letzten Metern die 2016 eingestürzte blaue Wand im Mittleren Westen wieder zu errichten – mit einigem Erfolg.
In Michigan liegt Biden 8 Prozentpunkte vor Trump. Ebenso in Wisconsin. In Pennsylvania trennen die Kandidaten 5 Prozentpunkte, mit Biden vorneweg. Warum diese drei Staaten im Rostgürtel so wichtig sind? Nach Stand der Dinge wird Biden die Wahl gewinnen, wenn er in Michigan, Wisconsin und Pennsylvania sowie in jenen Staaten siegt, in denen 2016 Hillary Clinton eine Mehrheit erhielt.
Unsere Empfehlungen – zum Lesen, Hören, Sehen
Wo Trump als Arbeiterführer gilt: Der Niedergang ist in der Industriestadt Erie allgegenwärtig. Im Gegensatz zu den US-Demokraten traf Donald Trump 2016 hier einen Nerv bei den Arbeitern. Obwohl seither nichts besser geworden ist, sind seine Chancen auf Wiederwahl in Pennsylvania groß. Hier sehen Sie einen Videoreport aus Erie, und hier lesen Sie die Reportage. Und wenn Sie mehr über meine Recherchen vor Ort erfahren möchten, empfehle ich Ihnen unseren Podcast „Die Story“.
Zu hoch gestapelt: Was hat der 45. Präsident der USA bei seinem Amtsantritt am 20. Januar 2017 versprochen – und was hat er geliefert? Ein Überblick.
Joe Biden – mit Gottes Wort in Georgias Weiten: Unser USA-Korrespondent Karl Doemens hat Joe Biden bei einem Wahlkampfauftritt in Georgia erlebt. Es war ein Besuch, der von bemerkenswerter Zuversicht zeugte, heißt es in der erhellenden Reportage.
Zitat der Woche
,Covid, Covid, Covid’, beschwert er sich. Er ist neidisch, weil über Covid so viel berichtet wird."
Barack Obama
früherer US-Präsident, spießt bei einem Wahlkampfauftritt den Umgang Trumps mit dem Virus auf.
What’s next? Termine bis zur Wahl
Samstag: Joe Biden und Barack Obama treten gemeinsam in Michigan auf – wo genau, ist noch nicht bekannt.
Samstag und Sonntag: Präsident Trump tourt durch Pennsylvania.
Dienstag, 6 Uhr: An der US-Ostküste öffnen die ersten Wahllokale.
Dieser ganz und gar außergewöhnliche US-Wahlkampf erreicht seine Schlussphase. Wir bleiben nah dran und informieren Sie über die letzten, großen Kraftanstrengungen der Kandidaten und über die Stimmung im Land stets aktuell auf rnd.de. Am Dienstag erhalten Sie an dieser Stelle Post von meinem Kollegen Matthias Koch – mit viel Wissenswertem zum Wahltag.
Ihre Marina Kormbaki
PS: Alle Infos zur US-Wahl finden Sie jederzeit auf unserer Themenseite.