Ein Jahr nach Russlands Überfall

Wie der Krieg die EU verändert hat

Charles Michel (von links nach rechts), Präsident des Europäischen Rates, Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission.

Charles Michel (von links nach rechts), Präsident des Europäischen Rates, Wolodymyr Selenskyj, Präsident der Ukraine, und Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission.

Brüssel. Es gibt sie noch. Der russische Präsident Wladimir Putin hat es nicht geschafft, die EU zu spalten. Das Gegenteil ist geschehen. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die EU-Staaten diszipliniert. Ein Jahr nach Beginn der Invasion ist die Bedeutung der EU für den Zusammenhalt in Europa größer als je zuvor.

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Historiker werden wohl dereinst die russische Invasion in eine Reihe stellen mit dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 und mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Noch kann niemand wissen, welche langfristigen Folgen der Krieg Putins gegen die Ukraine haben wird. Aber die Geschwindigkeit, mit der sich die EU und ihre Mitglieds­staaten in den vergangenen zwölf Monaten auf die neue Realität eingestellt haben, ist beeindruckend.

In nur zwölf Monaten ist die EU nach Osten gerückt

Dass das überfallene Land im vergangenen Jahr den Status eines EU-Beitritts­kandidaten erhalten hat, zeigt: In nur zwölf Monaten ist die EU nach Osten gerückt. Frankreich und Deutschland sind zwar immer noch die zentralen Mitglieds­staaten. Doch die früheren Sowjet­satelliten vom Baltikum über Polen bis Rumänien sind heute wichtiger denn je. Denn sie grenzen an Russland oder die Ukraine.

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Und diese Staaten haben jahrzehntelang vor der Gefahr gewarnt, die von Russland ausgehe. Sie wurden in Berlin, Paris und Brüssel nicht gehört. Weil russisches Gas billig war und immer verlässlich geliefert wurde. Weil viele Entscheider in der EU verdrängten, dass Putins Hunger nach dem Krieg gegen Georgien 2008 und nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 nicht gestillt sein würde.

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Doch das änderte sich schlagartig, als die russische Invasion vor zwölf Monaten begann. Seither durchlaufe Europa eine „strategische Derussifizierung“, wie Vera Jourova, die Vizepräsidentin der EU-Kommission, dem Redaktions­Netzwerk Deutschland (RND) sagt.

Mit Sanktionen gegen Russland hat die EU nicht gezögert

Die mittelost­europäischen Staaten hätten recht gehabt mit ihren Warnungen vor Putin, sagt die Politikerin aus Tschechien. Wer noch daran zweifle, dass die Ukraine auch weiter die volle militärische und wirtschaftliche Unterstützung der EU brauche, solle sich daran erinnern, sagt die Politikerin aus Tschechien: „Jede Minute des Zögerns kostet Menschenleben.“

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Zumindest, was Sanktionen gegen Russland angeht, hat die EU nicht lange gezögert. Zehn Pakete sind geschnürt. Es könnten noch weitere hinzukommen. Experten sagen, die Sanktionen würden nicht zum Zusammenbruch der russischen Wirtschaft führen, aber die Kosten für Putin in die Höhe treiben.

ARCHIV - 15.09.2022, Ukraine, Isjum: Ein Blick auf nicht identifizierte Gräber von Zivilisten und ukrainischen Soldaten, die von russischen Streitkräften zu Beginn des Krieges getötet worden sein sollen, auf einem Friedhof in der kürzlich zurückeroberten Stadt. Am 24. Februar 2023 jährt sich der Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. (zu dpa «Was von einem Jahr Krieg besonders in Erinnerung bleibt») Foto: Evgeniy Maloletka/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Wie Russlands Krieg an der Weltordnung rüttelt

Putins Krieg gegen die Ukraine teilt die ganze Welt neu ein. Die Frontlinie verläuft nicht nur zwischen Russen und Ukrainern, sondern zwischen Demokratien und Diktaturen. Auf bittere Weise muss auch Deutschland wieder aufrüsten, um Kriegsverbrecher auf Abstand zu halten.

Bemerkenswert ist auch, wie schnell es der EU gelungen ist, sich aus der Abhängigkeit von russischem Gas und Öl zu befreien. Dafür wurden zwar Lieferverträge mit autokratischen Staaten wie Katar und Aserbaidschan geschlossen. Doch diese werden die EU nicht abhängig machen, so wie es Gazprom und Rosneft über Jahrzehnte getan haben. Schließlich liefern verbündete Staaten wie Norwegen oder die USA ebenfalls Energie. Der Krieg hat zudem die Umstellung auf erneuerbare Energie beschleunigt. Das dürfte auch dem Green Deal von EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen auf die Sprünge helfen.

Die entscheidende Frage: Können die Europäer auf ihrem eigenen Kontinent überhaupt auf den Beistand der USA verzichten?

Der Krieg an der Ostgrenze der EU mit Millionen von Geflüchteten und schlimmen Folgen für die Wirtschaft hat in der EU eine Debatte befeuert, die seit Jahren ergebnislos geführt wird. Es geht um die Frage der Souveränität Europas. Besser gesagt: Es geht um die Frage, ob die Europäer auf ihrem eigenen Kontinent auf den Beistand der Amerikaner verzichten können.

Geht es nach Vizekommissions­präsidentin Jourova, dann hat die EU Nachholbedarf. „Wir können doch nicht über europäische Souveränität reden, wenn wir nicht entschieden sind, wenn es um die Sicherheit hinter unserer östlichen Grenze geht“, sagt sie. Diese Entschlossenheit gibt es noch nicht. Gerade haben die EU-Staaten im Osten US-Präsident Joe Biden um mehr Engagement in der Region gebeten.

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Die EU hat der Ukraine zwar viel Geld gegeben. Mehr als 3,5 Milliarden Euro sind es schon aus einem Sondertopf der Mitglieds­staaten. Damit soll die Ukraine Waffen kaufen. Auch Waffen­lieferungen in ein Kriegsgebiet, jahrzehntelang ein Tabu, gibt es inzwischen.

Doch das könnte nicht ausreichen, „um die EU als Friedensprojekt zu erhalten“, warnt Manfred Weber im Gespräch mit dem RND. Der CSU-Mann ist Chef der größten Fraktion im Europa­parlament. Er sagt zwar: „Politisch hat der Krieg dazu geführt, dass die Europäische Union heute definitiv geeinter ist als zuvor. Wir spüren alle, dass der European Way of Life in Gefahr ist.“ Doch müsse sich die heutige Politiker­generation fragen, „ob sie das historische Momentum, das dieser Krieg bedeutet, für Europa wirklich nutzt“.

Zwei Dinge müssten jetzt schnell passieren, fordert Weber: „Die EU-Staaten müssen endlich einen europäischen Verteidigungs­pfeiler aufbauen, und wir müssen die Einstimmigkeit bei außenpolitischen Entscheidungen abschaffen. Nur so können wir es schaffen, Europa für die Welt von morgen zu rüsten“.

EU: Um das Einstimmigkeits­gebot abzuschaffen, braucht es Einstimmigkeit

Leichter gesagt als getan. Um das Einstimmigkeits­gebot abzuschaffen, braucht es Einstimmigkeit. Doch in Ungarn sitzt ein Regierungschef, der seit Kriegsbeginn einen Sonderweg verfolgt.

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„Viktor Orban hat sich mit dem Krieg endgültig vom europäischen Wertesystem entkoppelt“, sagt Katarina Barley dem RND. „Inzwischen fungiert er als Putins Marionette im Europäischen Rat.“ Orban habe mehrfach „wichtige Maßnahmen zur Unterstützung des ukrainischen Volkes verzögert“, sagt die SPD-Politikerin und Vizepräsidentin des Europa­parlaments. So habe Orban das Geld blockiert, das die EU der Ukraine geben wollte, damit der Staatsbetrieb weiterlaufen kann. Es ging um 18 Milliarden Euro für dieses Jahr. Erst nach langem Streit lenkte Orban ein.

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Für Barley indes ist das kein Grund zur Freude. „Orban ist schon lange eine Gefahr für die europäische Demokratie, aber jetzt ist er auch eine Gefahr für die physische Sicherheit der Ukraine und damit Europas.“

Das wird Putin freuen. Die EU hat sich zwar mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die neue Realität eingestellt. Doch solange die EU-internen Spielregeln nicht verändert werden, kann ein einzelner Regierungschef viel Schaden anrichten.

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