Der leise Nato-Chef

Ein kühler Kopf in der Krise: Warum Generalsekretär Stoltenberg für die Nato so wichtig ist

„Die Nato trägt Verantwortung dafür, dass diese Krise nicht über die Ukraine hinaus eskaliert“: Jens Stoltenberg, seit 2014 Generalsekretär der westlichen Allianz.

„Die Nato trägt Verantwortung dafür, dass diese Krise nicht über die Ukraine hinaus eskaliert“: Jens Stoltenberg, seit 2014 Generalsekretär der westlichen Allianz.

Jens Stoltenberg kann keine mitreißenden Reden halten. Es knistert nicht, wenn er den Saal betritt. Eins aber kann er besser als viele andere. Der Mann aus dem hohen Norden Europas widersteht selbst in schwierigsten Zeiten dem naheliegenden emotionalen Reflex des Augenblicks.

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Der Weltöffentlichkeit hat er das erstmals im Jahr 2011 gezeigt, als Regierungschef in Oslo. Anders Breivik hatte auf der Insel Utøya 77 Menschen erschossen. Norwegen war geschockt, manche riefen nach dem starken Mann. Ministerpräsident Stoltenberg aber trotzte in einer unvergessenen Rede engstirnigen Aufwallungen aller Art: Die Antwort auf Gewalt müsse „noch mehr Demokratie, noch mehr Offenheit“ sein, „aber nie Naivität“.

Nicht jeder ist dazu geboren, in einer solchen Stunde einen so kühlen Kopf zu bewahren.

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Allzu riskanter Vorschlag aus Polen

Genau diese Eigenschaften sind jetzt an der Spitze der Nato gefragt. Der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine stellt die Nato vor die größte Herausforderung ihrer Geschichte. In dieser Lage braucht das Bündnis keinen Sprücheklopfer, sondern einen, der es erstens zusammenhält und zweitens in eine gute Richtung führt. An beiden Stellen leistet Stoltenberg hinter den Kulissen gerade Großartiges, Tag für Tag.

Die Nato wird aktiver denn je, aber sie bleibt besonnen. In den kommenden Jahren wird das Bündnis seine militärischen Kräfte an der Ostflanke massiv verstärken – von Estland, Lettland und Litauen an der Ostsee über Polen, die Slowakei und Ungarn bis nach Rumänien am Schwarzen Meer. Stoltenberg sagte am Mittwoch in Brüssel, es gehe um eine Strategie der Abschreckung und der Eindämmung Russlands: „Die Nato trägt Verantwortung dafür, dass diese Krise nicht über die Ukraine hinaus eskaliert.“

Nato-Generalsekretär: brisante Vorschläge zur Ostflanke
16.03.2022, Belgien, Brüssel: Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär,  gibt eine Presseerklärung vor einem Treffen der Nato-Verteidigungsminister im Nato-Hauptquartier. Russlands Invasion in die Ukraine wird nach Einschätzung von Nato-Generalsekretär Stoltenberg dauerhafte Konsequenzen für das Verteidigungsbündnis haben. Foto: Johanna Geron/Pool Reuters/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Russland hat mit seinem Angriff gegen die Ukraine klar gegen die Nato-Russland-Grundakte verstoßen. Die Vorschläge aus Brüssel dürften Moskau nicht gefallen.

Dieser Weg ist der Richtige. Gefährlich wäre es dagegen gewesen, einem Vorschlag aus Polen zu folgen und MiG-29-Kampfflugzeuge von Ramstein aus in den umkämpften Luftraum über der Ukraine zu entsenden. Ähnliches gilt für gut gemeinte Forderungen, mal eben aus humanitären Gründen ein Flugverbot zu verhängen. Beides könnte zum direkten Schlagabtausch mit Russland führen. Die Menschen, zu deren Schutz ein Eingreifen der Nato gefordert wird, hätten nichts davon, wenn plötzlich die ganze Welt in Flammen steht.

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Stoltenberg bekommt es hin, Vorschläge dieser Art zu bremsen, ohne dass deren Urheber das Gesicht verlieren. Wenn er wieder mal in dem einen oder anderen Punkt die Balten enttäuschen muss, legt er ihnen gleichzeitig den Arm um die Schulter und versicherte ihnen, dass das Bündnis sie nicht allein lassen werde.

Auch Schwäche zeigen wäre gefährlich

Bei der Seelenpflege hilft ihm der mächtigste Mann in der Riege der 30 Nato-Verteidigungsminister. Der Amerikaner Lloyd Austin betonte am Mittwoch in Brüssel einmal mehr, die USA würden im Fall jedes russischen Angriffs auf einen europäischen Bündnispartner ihrer Beistandsverpflichtung nachkommen: „Die Verpflichtung der USA nach Artikel fünf des Nato-Vertrages ist eisern“, sagte Austin.

Die Ängste der Menschen in Estland, Lettland und Litauen sind verständlich. Seit sich die russische Armee in Belarus breitmacht, fallen besorgtere Blicke denn je auf die sogenannte Suwalki-Lücke zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad an der Ostsee. Würden russische Truppen hier – zwischen Litauen und Polen – durchstoßen und einen russisch besetzten Korridor schaffen, gäbe es keine Landverbindung mehr zwischen den baltischen Republiken und dem Gebiet von Nato und EU.

Grund zur Sorge in der Nato: Die Suwalki-Lücke könnte für Russland nach dem Angriff auf die Ukraine das Ziel eines weiteren Vorstoßes sein.

Grund zur Sorge in der Nato: Die Suwalki-Lücke könnte für Russland nach dem Angriff auf die Ukraine das Ziel eines weiteren Vorstoßes sein.

Die Nato reagiert auf diese Sorgen bereits jetzt mit deutlich gesteigerter Militärpräsenz. Aufklärungsflugzeuge sowie schwere Bomber und Kampfflugzeuge kontrollieren derzeit die Region ununterbrochen aus der Luft. An Land sollen künftig besonders leistungsfähige Flugabwehrsysteme und panzerbrechende Waffen in Stellung gebracht werden. Auch die Verteidigung der Seewege wird verstärkt.

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Die jetzt geplante Aufrüstung der Nato-Ostflanke dürfte gegen die Nato-Russland-Grundakte verstoßen – die aber von Russland bereits durch den Einmarsch in der Ukraine auf noch krassere Weise verletzt wurde. In dem Dokument aus dem Jahr 1997 hatte sich die Nato verpflichtet, auf die dauerhafte Stationierung „substanzieller Kampftruppen“ im östlichen Bündnisgebiet zu verzichten. Stoltenberg sagte am Mittwoch, Europa befinde sich durch die russische Aggression „in einer völlig neuen Sicherheitsumgebung“. Deshalb werde das Bündnis „jetzt das tun, was erforderlich ist“.

Zurückhaltung pur, weiß Stoltenberg, könnte ebenfalls ein Weg in den Weltkrieg sein: Wenn Wladimir Putin den Westen als schwach wahrnimmt, könnte er als nächstes ins Baltikum einfallen.

„Cold Response 2022″ - Schweden und Finnland machen mit

Massive, glaubhafte Abschreckung mit dem gesamten Arsenal des Bündnisses ist das Gebot der Stunde. Die Nato darf nicht naiv sein, sie muss Russland Grenzen setzen. Und sie muss zeigen, dass sie in der Lage ist, militärisch standzuhalten: in allen Regionen und auf allen denkbaren Eskalationsstufen.

„Cold Response 2022“: Nato-Schiffe am 15. März zwischen Nordsee und Nordmeer.

„Cold Response 2022“: Nato-Schiffe am 15. März zwischen Nordsee und Nordmeer.

Gerade ist die seit Langem geplante Großübung „Cold Response 2022″ angelaufen. Landstreitkräfte, Schiffe und Flugzeuge sind unterwegs, der regionale Schwerpunkt ist diesmal Norwegen, die Heimat Stoltenbergs. Es ist ein Nato-Land, das im Nordosten direkt an Russland grenzt – und das Erfahrung darin hat, die Nerven zu behalten.

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Die norwegische Kühle, die die gesamte Nato derzeit ausstrahlt, hat nicht nur einen beruhigenden weltpolitischen Effekt. Sie verschafft dem Bündnis auch eine ungeahnte neue Anziehungskraft. Schweden und Finnland, bislang keine Nato-Länder, machen bei der Übung „Cold Response“ schon mal mit.

Diese „Nato-Erweiterung light“, nach Norden hin, ist die kalte Reaktion der Schweden und Finnen auf Russland. Und es ist, in seinem letzten Amtsjahr, einer der vielen kleinen Triumphe des leisen Generalsekretärs Stoltenberg.

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