Von der Ukraine über Afghanistan zu den Kurden – eine Krise kommt selten allein
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© Quelle: RND
Liebe Leserin, lieber Leser,
kürzlich hat mir ein Zeitungsabonnent Kriegstreiberei vorgeworfen. „Stimmung machen für den dritten Weltkrieg – ist das so befriedigend oder so lukrativ?“, fragte er empört. Auslöser für die Wutmail war ein Kommentar vom Januar, in dem ich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) für seine zögerliche Haltung bei der Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine kritisierte. Ich antwortete, dass ich es vor jenem schicksalhaften 24. Februar vergangenen Jahres nie für möglich gehalten hätte, dass ich für die Lieferung von deutschen Waffen in ein Kriegsgebiet plädieren würde – erst recht nicht als einstiger Kriegsdienstverweigerer.
Der kritische Leser forderte mich auf, doch an die „Ostfront“ zu gehen. Von der „Ostfront“ in der Ukraine kehre ich gerade im Zug nach Berlin zurück, während ich diese Zeilen für die erste Ausgabe des Krisen-Radars schreibe – wenn ich auch nicht als Soldat dort war, wie mir der Abonnent nahegelegt hatte, sondern als Reporter.
Konflikt, Flüchtlingskrise, Naturkatastrophen
Bevor ich im Herbst als Krisenreporter zum RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) stieß, habe ich fast zwei Jahrzehnte lang als Auslandskorrespondent für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) gearbeitet. Ich habe über den Krieg in Afghanistan, über islamistische Aufstände in Pakistan, über den Bürgerkrieg in Sri Lanka, über Terrorangriffe in Indien, über maoistische Rebellen in Nepal, über den Kurdenkonflikt, über die Flüchtlingskrise, über Naturkatastrophen, über Proteste in den USA und über die dortige Drogenkrise berichtet.
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Talibankämpfer am Ort einer Explosion in der Nähe des Innenministeriums im Januar.
© Quelle: Ebrahim Noroozi/AP/dpa
In dieser Zeit ist mir klar geworden: Viele Deutsche interessieren sich für Krisen außerhalb des eigenen Landes nur am Rande, weil sie glauben, dass sie ihr Leben nicht tangieren. Das kann ein fataler Irrglaube sein. Der Konflikt im Donbass beispielsweise fand hierzulande über lange Zeit hinweg kaum noch Beachtung, bis er in den Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine mündete.
Wie sehr Fehleinschätzungen über Kriege und Krisen verbreitet sind, darauf deutet eine Umfrage im Auftrag der dpa aus dem vergangenen Monat hin: Im Fall eines militärischen Angriffs auf Deutschland würde demnach jeder Dritte (33 Prozent) versuchen, sein gewohntes Leben so weit wie möglich weiterzuführen. Jeder Ukrainer und jede Ukrainerin könnte diesen Menschen versichern, dass niemand im Krieg sein gewohntes Leben fortsetzen kann.
Und noch ein Stimmungsbild hat mich nachdenklich zurückgelassen: In einer Umfrage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ hat sich ebenfalls im vergangenen Monat fast jeder Vierte (24 Prozent) dafür ausgesprochen, dass die Ukraine ihren Widerstand einfach aufgeben sollte, in Ostdeutschland plädierten 41 Prozent dafür. Wer so denkt, sollte sich vergegenwärtigen, was das vor dem Hintergrund der Kriegsrealität bedeuten würde: Würde die Ukraine kapitulieren, wäre das das Ende ihrer Existenz. Würde Russland aufgeben, wäre der Krieg beendet.
Wiederaufbau in der Südukraine: „Mykolajiw ist vom Krieg gezeichnet“
In der südukrainischen Stadt Mykolajiw stehen die Wiederaufbauarbeiter symbolisch für den unbeugsamen Willen der Ukrainer und Ukrainerinnen.
© Quelle: RND
Friedensverhandlungen trotz brutaler Kriegsverbrechen?
Putin ist der Aggressor, das muss man sich immer wieder in Erinnerung rufen. Russische Truppen besetzen immer noch Teile des Ostens und Südens der Ukraine, ihnen werden systematische Kriegsverbrechen vorgeworfen. Auch deswegen sind Forderungen wie die von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer nach sofortigen Friedensverhandlungen so bemerkenswert. Wären sie dazu bereit, mit einem mörderischen Eindringling in ihrem Zuhause Kompromisse zu schließen?
Der russische Einmarsch ist ein Indiz dafür, wie Konflikte miteinander verknüpft sind, selbst wenn sie sich auf unterschiedlichen Kontinenten abspielen. So dürfte etwa das Scheitern des Westens in Afghanistan Putin zum Einmarsch in die Ukraine ermutigt haben. Noch unter Präsident Donald Trump hatten die USA im Februar 2020 das Ende des Afghanistan-Einsatzes verkündet. Trump-Nachfolger Joe Biden hielt daran fest, ohne den Taliban Bedingungen für einen Abzug zu stellen – trotz des Widerstands nicht nur aus Deutschland. Die Konsequenz ist bekannt: Seit August 2021 herrschen die Taliban wieder in Kabul. Etliche Tote, horrende Kosten – alles umsonst nach 20 Jahren Einsatz.
Putin konnte angesichts der Uneinigkeit des Westens in Afghanistan darauf hoffen, die Nato auch beim Angriff auf die Ukraine zu spalten. Was vor diesem Hintergrund paradox wirkt: Biden ist es zu verdanken, dass dem Kremlchef diese Spaltung zumindest bislang nicht gelungen ist. Der US-Demokrat hat sich seit seinem ersten Tag im Weißen Haus darum bemüht, die Bündnisse wiederzubeleben, die unter seinem republikanischen Vorgänger schweren Schaden genommen hatten.
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Ein amerikanischer Panzer des Typs M1 Abrams. Die USA haben zugestimmt, die Panzer in die Ukraine zu liefern.
© Quelle: Nicolas Armer/dpa
Tatsächlich hat Putins Einmarsch in die Ukraine zu einer Stärkung der Nato geführt, der inzwischen auch Schweden und Finnland beitreten wollen. Allerdings verhindert Recep Tayyip Erdogan, Präsident des Nato-Mitglieds Türkei, diese Norderweiterung des Bündnisses bislang. Als Grund führt Wahlkämpfer Erdogan an, dass Schweden nicht scharf genug gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK vorgehe – noch ein Beleg dafür, wie internationale Konflikte, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben, sich am Ende doch gegenseitig beeinflussen.
Taiwan schaut mit Sorge auf die Ukraine
Diese Zusammenhänge zeigen sich auch in Taiwan, wo ich im Dezember erleben konnte, wie sich die Inselrepublik auf eine mögliche Invasion Chinas vorbereitet. Bei jedem politischen Gespräch in Taipeh spielt die viele Tausend Kilometer entfernte Ukraine eine Rolle. Chinas Präsident Xi Jinping droht offen damit, dass sich China Taiwan einverleiben werde. Die Taiwanerinnen und Taiwaner verfolgen den Krieg in der Ukraine deswegen so genau, weil sie überzeugt sind, dass ein Erfolg Putins Präsident Xi zur Invasion ermutigen würde. Biden hat mehrfach eine Verteidigung der Inselrepublik im Falle eines Angriffs der Atommacht China zugesagt.
Dann könnte tatsächlich der dritte Weltkrieg drohen, den der eingangs erwähnte Zeitungsabonnent befürchtet. Anders als der Abonnent glaube ich aber, dass wir dieser Gefahr durch Waffenlieferungen an die Ukraine entgegenwirken, selbst wenn das paradox erscheint. Auch wenn dieser Leser und ich verschiedener Ansicht sind: Um sich eine fundierte Meinung zu bilden, ist es wichtig, über globale Krisen informiert zu sein. Solche Krisen zu analysieren und Zusammenhänge aufzudecken – dazu will dieser Newsletter künftig einen Beitrag leisten.
Bis zur nächsten Ausgabe
Ihr Can Merey
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Krisen-Radar
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Was gerade passiert
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Ein ukrainischer Fallschirmjäger bereitet eine Panzerhaubitze an der Frontlinie Bachmut vor.
© Quelle: Evgeniy Maloletka/AP
- In der heftig umkämpften Stadt Bachmut geraten die ukrainischen Truppen zunehmend in Bedrängnis. Die russischen Söldner der Wagner-Gruppe rücken aus mehreren Richtungen auf das Zentrum der Stadt vor.
- Russland hat im vergangenen Jahr einen Handelsüberschuss von 332 Milliarden Dollar erzielt. Durch den hohen Ölpreis konnte das Land sein Exportvolumen um knapp 20 Prozent steigern. Gleichzeitig verzeichnet Russland weniger Importe aus dem Ausland.
- In Genf haben sich russische Regierungsvertreter nach Verhandlungen dazu bereit erklärt, das Abkommen über Getreidehandel zwischen den UN, Russland und der Ukraine zu verlängern. Im Gegenzug verlangt Moskau, dass russisches Ammoniak über eine Pipeline durch die Ukraine für den Export zu den Schwarzmeerhäfen geleitet wird.
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Die Story des Tages
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„Die Russen haben Angst vor ihr“: Die Panzerhaubitze 2000 in der Ukraine
Die deutsche Panzerhaubitze 2000 bietet den ukrainischen Soldaten im Kampf gegen die russischen Besatzer einen großen Vorteil. Welten liegen zwischen der deutschen Hightechwaffe und sowjetischen T-64-Panzern, mit denen andere ukrainische Einheiten ins Gefecht ziehen. Nur in einem der Stahlkolosse gilt: Schuhe ausziehen.
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Klare Ansage
Mit Putin kann man nicht verhandeln. Er muss erst mal begreifen, dass er diesen Krieg nicht gewinnen kann.
Winfried Kretschmann
Baden-Württembergs Ministerpräsident
Vorschau
Die EU sammelt Geld für die türkischen und syrischen Erdbebenopfer
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Trümmer in Nordsyrien: Zum zwölf Jahre dauernden Bürgerkrieg kommen nun auch noch die schweren Erdbeben.
© Quelle: Caritas Syrien/Caritas internati
Für Montag, 20. März, lädt die EU-Kommission und der EU-Ratsvorsitz Schweden zu einer internationalen Geberkonferenz zur Unterstützung der Erdbebenopfer in der Türkei und in Syrien. Sechs Wochen nach der Katastrophe soll in Brüssel Geld für den Wiederaufbau gesammelt werden. „Ich rufe alle Staaten und alle öffentlichen und privaten Geber auf, die Erinnerung an das verlorene Leben, den Heroismus der Ersthelfer und vor allem eine bessere Zukunft für die Überlebenden zu leisten und zu würdigen“, sagte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor der Konferenz.
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