Sagt Erdogan die Wahlen ab?
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Recep Tayyip Erdogan beim Besuch von Opfern der Erdbebenkatastrophe in Diyarbakir.
© Quelle: -/Turkish Presidency/APA Images
Noch steht die ganze Türkei im Bann der Jahrhundertkatastrophe, die mit der Erdbebenserie vor zehn Tagen über das Land hereinbrach. Es wird Wochen, vielleicht Monate dauern, bis die Bergungsmannschaften alle Toten unter den Ruinen ausgegraben haben. Aber eine Frage wird immer dringender: Können unter diesen Umständen Wahlen stattfinden?
In der Katastrophenregion ist angesichts der großen Zerstörungen aus heutiger Sicht ein geordneter Urnengang kaum vorstellbar. Das betroffene Gebiet umfasst zehn Provinzen mit 13,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Auf diese Region entfallen immerhin 85 der 600 Parlamentsmandate. Jetzt sind 1,5 Millionen Menschen obdachlos. Sie leben in Zelten und Notunterkünften. Hunderttausende sind in andere Landesteile abgewandert. Wo sie wählen könnten, ist unklar.
Erdogans Wiederwahl zum Präsidenten ist ungewiss
Präsident Recep Tayyip Erdogan hat sich seit dem Beben zum Thema Wahlen nicht geäußert. Kurz vor der Katastrophe nannte er den 14. Mai als Wahltermin. Aber mit der Katastrophe haben sich die politischen Voraussetzungen für ihn radikal verändert, und zwar zum Negativen. Schon seit Monaten verzeichnete die Regierungspartei AKP wegen der desolaten Wirtschaftslage schlechte Umfragewerte. Die Mehrheit der AKP im Parlament schien in Gefahr, Erdogans Wiederwahl zum Präsidenten ungewiss.
Das gilt seit dem Erdbeben erst recht. Wegen des chaotischen Krisenmanagements und der nur langsam anlaufenden Hilfe für die Überlebenden kommt die Regierung unter Druck. Das spricht aus Erdogans Sicht für eine Verschiebung der Wahlen – in der Hoffnung, dass der Wiederaufbau der verwüsteten Städte schnell anläuft und sich die Wut der Überlebenden legt.
Bülent Arinc, ein früherer Vizepremier und einflussreicher Politiker in der Regierungspartei AKP, forderte bereits auf Twitter: „Die Wahlen müssen verschoben werden, das ist eine Notwendigkeit.“ Arinc deutete als möglichen neuen Wahltermin das Frühjahr 2024 an. Bis dahin soll Erdogan offenbar einfach weiterregieren.
Zahl der Toten nach Erdbeben in der Türkei und Syrien steigt auf über 40.000
Es gibt auch gute Nachrichten. Mehr als eine Woche nach der Katastrophe werden noch Überlebende in den Trümmern gefunden.
© Quelle: Reuters
Verfassung „kein heiliger Text“
Eine Verschiebung bis zum Frühjahr 2024 würde zu dem Zeitplan passen, den Erdogan jetzt verkündete: Die Regierung werde unverzüglich mit dem Aufbau von 30.000 eingestürzten und schwer beschädigten Gebäuden beginnen, sagte der Staatschef am Dienstagabend in Ankara. In nur einem Jahr soll der Wiederaufbau abgeschlossen sein, so Erdogan.
Ob das realistisch ist, steht auf einem anderen Blatt. Den Urnengang bis dahin zu verschieben ist aber rechtlich eigentlich gar nicht möglich. Laut Artikel 78 der Verfassung müssen die Wahlen spätestens am 18. Juni dieses Jahres stattfinden. Dann enden die Legislaturperiode und die Amtszeit des Präsidenten. Arinc argumentiert hingegen, die Verfassung sei „kein heiliger Text“. Das löste einen Proteststurm bei der Opposition aus. Selahattin Demirtas, der inhaftierte frühere Vorsitzende der prokurdischen Partei HDP, warf Erdogan auf Twitter vor, er plane einen „Staatsstreich“, um an der Macht zu bleiben.
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Rede aus dem Gefängnis: Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtas von der prokurdischen HDP spricht 2019 aus der Haft zu seinen Anhängerinnen und Anhängern.
© Quelle: REX/Shutterstock
„Dieses Land hat Ihnen 20 Jahre gegeben“
Oppositionsnahe Kommentatorinnen und Kommentatoren spekulieren, Erdogan wolle die Verfassung umgehen. So könnte der Oberste Wahlrat (YSK) erklären, unter den Bedingungen der Katastrophe sei es unmöglich, geordnete Wahlen zu veranstalten, weil der Aufenthaltsort von Hunderttausenden Wählerinnen und Wählern unklar ist. Außerdem müssten die Wählerlisten wegen der Todesfälle überarbeitet werden. Ungewiss ist, ob sich die Mitglieder des Wahlrats, der eigentlich unabhängig sein soll, dazu hergeben, die Wahlen zu verschieben. Viele Juristinnen und Juristen bezweifeln auch, ob das verfassungsrechtlich vertretbar wäre. Die Opposition könnte gegen eine solche Verschiebung die Gerichte anrufen – allerdings mit ungewissen Erfolgsaussichten, denn Erdogan hat in den vergangenen zwei Jahren alle Schlüsselstellungen in der Justiz mit Leuten seines Vertrauens besetzt.
Theoretisch könnte das Parlament zwar den Verfassungsartikel 78 so ändern, dass eine Verschiebung der Wahl möglich wird, das ginge aber nur mit einer Zweidrittelmehrheit von 400 Stimmen. Die Regierung verfügt indes nur über 335 Mandate. Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu lehnt eine Verfassungsänderung ab. „Die Wahlen finden pünktlich statt“, erklärte er. An die Adresse Erdogans sagte er: „Dieses Land hat Ihnen 20 Jahre gegeben. Als wir während der Pandemie Masken brauchten, gab es keine. Als unsere Wälder brannten, konnten Sie keine Löschflugzeuge auftreiben. Sie haben die Wirtschaft an die Wand gefahren. Jetzt hat uns das Erdbeben den Rest gegeben. Sie waren immer nur inkompetent. Wir geben Ihnen kein weiteres Jahr, nicht einmal einen einzigen Tag.“
Kilicdaroglu scheint es also eilig zu haben. Andererseits haben die Oppositionsparteien immer noch nicht entschieden, wen sie bei der Präsidentenwahl gegen Erdogan ins Rennen schicken wollen. Die für vergangenen Montag angesetzten Beratungen über die Nominierung eines gemeinsamen Oppositionskandidaten wurden vertagt – „auf unbestimmte Zeit“.