Erdogans Wächter: Opposition warnt vor Parallel-Polizei in Türkei
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Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei.
© Quelle: Turkish Presidential Palace/XinH
Ankara. Schon lange vor der Gründung der türkischen Republik, im Osmanenreich, gehörten sie zum Straßenbild der Städte: Die bekci – Nachtwächter, die nach Einbruch der Dunkelheit und bis zum Morgengrauen durch die Straßen patrouillierten, um nach dem Rechten zu sehen und für die Sicherheit der schlafenden Bürger zu sorgen.
In zahllosen türkischen Romanen werden die bekci besungen, sie gehören zu den Statisten der Filme aus den 50er und 60er Jahren. 2008 wurde die Truppe auf Weisung des damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan als „überflüssig“ aufgelöst, die damals rund 8000 Nachtwächter wurden in die reguläre Polizei übernommen.
Doch nach dem Putschversuch vom Juli 2016 erinnerte sich Erdogan der bekci und baute die Mannschaft neu auf. 2017 wurden 9000 Wächter rekrutiert, in den beiden folgenden Jahren kamen jeweils 10 000 weitere hinzu, und 2020 soll die Truppe erneut um 10 000 Männer und Frauen wachsen.
Sechsmonatige Ausbildung
Bewerber dürfen nicht älter als 30 Jahre sein, keine Vorstrafen haben und müssen mindestens seit einem Jahr in dem Bezirk wohnen, in dem sie auf Streife gehen. Nach einer Aufnahmeprüfung absolvieren die angehenden Wächter eine sechsmonatige Ausbildung.
Mit fast 40 000 Mitgliedern wird das Heer der Wächter Ende dieses Jahres größer sein als je zuvor. Die Regierung verspricht den Bürgern mehr Sicherheit: „Wir können die Ordnung in unseren Städten nicht länger nur mit den traditionellen Sicherheitskräften gewährleisten, wir brauchen neue Methoden“, erklärte Staatschef Erdogan Anfang Januar.
Aber Oppositionspolitiker und Regierungskritiker fürchten, dass es nicht so sehr um die Sicherheit der Bürger geht, sondern um die der Machthaber. Erdogan arbeite am Aufbau einer „Parallelpolizei“, glaubt der Oppositionsabgeordnete Ali Öztunc. Bürgerrechtler argwöhnen, die neuen Aufpasser, die als Nachbarschaftswächter in ihren eigenen Wohnvierteln patrouillieren sollen, könnten als Augen und Ohren der Regierung in den einzelnen Vierteln die Überwachung der Bürger weiter perfektionieren.
Verstärkt wird das Misstrauen durch einen Gesetzentwurf, den die islamische Regierungspartei AKP im Januar im Parlament einbrachte. Er sieht vor, dass die bekci künftig weitaus größere Befugnisse bekommen. Gingen die Wächter früher nur mit einem Schlagstock und einer Trillerpfeife auf Streife, wie die legendären Londoner Bobbys, sollen sie nun mit Schusswaffen ausgerüstet werden. Außerdem dürfen sie in Zukunft Verdächtige überprüfen, durchsuchen und festnehmen sowie Beweismittel sichern.
Leibesvisitationen erlaubt
Dabei hatte erst im November 2019 ein Gericht in Izmir entschieden, dass die Nachbarschaftswächter nicht das Recht haben, Ausweiskontrollen durchzuführen. Anlass des Richterspruchs war ein Vorfall in einem Park in Izmir, bei dem Wächter zwei junge Leute festgehalten und ihre Ausweise verlangt hatten. Die kurdische Parlamentsabgeordnete Filiz Kerestecioglu fürchtet von den neuen Befugnissen eine Zunahme der Menschenrechtsverletzungen in der Türkei.
Besonders umstritten ist die geplante Regelung, wonach die Nachbarschaftswächter künftig Personen, die ihnen „verdächtig erscheinen“, einer Leibesvisitation unterziehen dürfen. Die Oppositionsabgeordnete Aylin Cesur befürchtet, dass Wächter diese Möglichkeit zur sexuellen Belästigung von Frauen missbrauchen könnten. Es gibt deshalb Bestrebungen, diesen umstrittenen Passus aus dem Gesetzentwurf zu streichen.
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Der türkische Prediger Fethullah Gülen.
© Quelle: Matt Smith/dpa
Mit dem neuen Gesetz bekommen die bekcis hoheitliche Kompetenzen, die bisher der Polizei vorbehalten sind - einer Polizei, der Erdogan allerdings nicht mehr uneingeschränkt vertrauen kann: Der Sicherheitsapparat galt vor dem Putschversuch als eine Hochburg des Exil-Predigers Fethullah Gülen.
Kooperation mit Gülen
In enger Zusammenarbeit mit Erdogan hatte Gülen in den frühen 2000er Jahren viele Schlüsselstellungen bei der Polizei, in der Justiz und beim Militär mit Leuten seines Vertrauens besetzt. Als Gülen Erdogan zu mächtig wurde, kam es 2012 zum Bruch. Aus dem Verbündeten wurde der Erzfeind.
Nach dem Putschversuch, für den Erdogan Gülen als Drahtzieher verantwortlich macht, ließ der Staatschef rund 34 000 mutmaßliche Anhänger der Gülen-Bewegung aus dem Polizeidienst entfernen. Kritiker argwöhnen, Erdogan wolle sich nun mit dem massiven Ausbau der bekci-Organisation einen eigenen, loyalen Sicherheitsapparat aufbauen.