EU-Kommissarin Vestager: “Wir sind in einer Art Winterschlaf”

Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission.

Margrethe Vestager, Vizepräsidentin der EU-Kommission.

Brüssel. Margrethe Vestager ist Vizepräsidentin der EU-Kommission. Die 51 Jahre alte Politikerin aus Dänemark galt in der Vergangenheit als resolute Wächterin der Wettbewerbsregeln in der Europäischen Union. Doch die Coronavirus-Krise machte der strengen Kontrolle staatlicher Beihilfen durch die Brüsseler Behörde – vorläufig – ein Ende.

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Frau Vizepräsidentin, im Kampf gegen das Coronavirus haben Sie als Wettbewerbskommissarin die strengen Regeln für staatliche Beihilfe über Bord geworfen. Glauben Sie, dass die Mitgliedsstaaten sich wieder an Brüsseler Vorgaben halten werden, wenn die Krise einmal vorbei ist?

Das erwarte ich nicht nur, das muss auch geschehen. Wir haben jetzt vorübergehend viel mehr Regeln aufgehoben als zu Zeiten der Finanzkrise. Hier geschieht gerade wirklich etwas, das noch nie da gewesen ist. Doch wenn die Viruskrise einmal vorbei ist, dann müssen wir so schnell wie möglich zu den Regeln des Binnenmarkts zurückkehren. Nur dann wird die EU in der Lage sein, die wirtschaftlichen Folgen der Coronavirus-Krise zu dämpfen.

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Eine Renationalisierung der Wirtschaft fürchten Sie nicht?

Das kann ich mir nicht vorstellen. Es mag ja sein, dass es jetzt noch nötig ist, mit Beschränkungen des Binnenmarktes auf die Bedrohung durch das Virus zu reagieren. Sobald es aber darum gehen wird, die Wirtschaft wieder hochzufahren, brauchen wir eine Rückkehr zum Binnenmarkt.

Die Viruskrise ist in der EU ungefähr einen Monat alt. Gibt es genügend Solidarität?

Ich hoffe sehr, dass wir noch mehr solidarische Aktionen sehen werden. Der Hauptunterschied zur Finanzkrise ist doch: Man kann keinem Mitgliedsstaat den Vorwurf machen, er sei unnötige Risiken auf den Finanzmärkten eingegangen, die dann zu einem ökonomischen Problem geführt haben. Vor dem Virus sind wir alle gleich. Wir brauchen einander, heute mehr denn je.

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Wir sollten nicht den Fehler machen und einzelne Maßnahmen zerreden. Das birgt nur die Gefahr, in alte Argumentationsmuster zu verfallen, die in der Viruskrise nicht helfen. Wir müssen in der jetzigen Situation ausnahmslos alle Instrumente nutzen, die wir zur Verfügung haben. Tabus darf es nicht geben. Wir brauchen Lösungen.

Ist das der Marshallplan, von dem jetzt die Rede ist?

Ich will lieber nicht von einem Marshallplan sprechen. Europa ist ja nicht zerstört wie am Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir haben weiter sehr gut ausgebildete Menschen, eine bewundernswerte Technologie und eine ausgezeichnete Industriestruktur. Wir sollten uns lieber überlegen, wie wir genügend Geld mobilisieren, um schnell wieder aus dem Tal herauszukommen. Wir müssen alles tun, damit die Beschäftigten in den Unternehmen bleiben. Deswegen hat die EU auch ein Kurzarbeitergeld aufgelegt, wie Sie es aus Deutschland kennen. Ich will es so sagen: Die Wirtschaft in der EU ist in einer Art Winterschlaf. Wir müssen jetzt die Voraussetzungen schaffen, dass Unternehmen und Beschäftigte gleichzeitig wieder anpacken können, wenn die kalten Tage vorbei sind.

Was sollten die Prioritäten sein, wenn die Gesundheitskrise vorbei ist?

Es mag sich heute unwirklich anhören, weil wir zu Recht damit beschäftigt sind, Leben zu retten. Aber wir dürfen unsere langfristigen Ziele nicht aus den Augen verlieren. Das sind die Klimaneutralität und die Digitalisierung. Der Klimawandel hört ja nicht auf, weil wir gerade eine Virusepidemie durchleben müssen. Und den Wert der Digitalisierung lernen in diesen Tagen und Wochen Millionen von Menschen schätzen, die von zu Hause arbeiten oder mit ihren Lieben Kontakt halten.

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Vielleicht. Wir machen gerade einen sehr schmerzhaften Lernprozess durch. Am Ende wird es aber selbstverständlicher sein als vor der Viruskrise, dass wir mit Freunden einen virtuellen Drink nehmen und unsere Kinder mit digitalen Hilfsmitteln lernen.

Noch ist die digitale Kommunikation praktisch vollständig von US-amerikanischen Anbietern dominiert. Wird die Viruskrise zu einem, sagen wir: europäischen Google führen?

Der Markt wird offener werden, davon bin ich überzeugt. Es werden sich mehr europäische Unternehmen finden, die eigene Wege gehen werden. Ansätze dafür sehen wir bereits heute. Die Gesundheitskrise ist in gewisser Weise ein Technologieschub. Techunternehmen in Europa arbeiten mehr zusammen. Die Abhängigkeit von den USA wird auf diesem Gebiet sicherlich abnehmen.

Wird die EU auch nach der Krise ein wirtschaftliches Kraftwerk sein?

Wir werden uns – wie der Rest der Welt auch – erst an den Wiederaufbau machen müssen. Wenn man in einer Viruskrise die Gesellschaft und die Wirtschaft in einen Winterschlaf versetzt, dann hat das natürlich enorme ökonomische Folgen. Aber wir haben in der EU die Infrastruktur, die Wirtschaftsstruktur und genügend hervorragend ausgebildete Menschen, um wieder zu erstarken.

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Werden chinesische Unternehmen nach der Krise auf Einkaufstour in Europa gehen?

Das Risiko besteht. Wer die Gesundheitskrise schneller überwindet, könnte sich in anderen Teilen der Welt nach Übernahmekandidaten umsehen. Aber wir können dieses Risiko beherrschen – durch genaue Kontrollen von ausländischen Investitionen und zur Not durch den Ankauf von Aktien durch Mitgliedsstaaten.

Wie wird sich der zu erwartende Einbruch der Wirtschaft in den USA auf die EU auswirken?

Das wird uns sicherlich treffen. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass der innereuropäische Handel unseren Wohlstand gesichert hat. Damit das wieder so wird, müssen wir alles daran setzen, den Binnenmarkt zu erhalten.

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