“EU-Türkei-Erklärung ist einzige Alternative zu Chaos”

"Ohne die EU-Türkei Erklärung wären die Zustände für Flüchtlinge und Asylsuchende in der Türkei, auf den griechischen Inseln und auf dem Festland ohne Zweifel schlimmer": Der Migrationsforscher Gerald Knaus.

“Ohne die EU-Türkei-Erklärung wären die Zustände für Flüchtlinge und Asylsuchende in der Türkei, auf den griechischen Inseln und auf dem Festland ohne Zweifel schlimmer”: Der Migrationsforscher Gerald Knaus.

Berlin. Herr Knaus, im Flüchtlingslager von Samos spielen Kinder im Morast, bis zur Anhörung ihrer Eltern vergeht mitunter mehr als ein Jahr, die Menschen nennen den Ort “den Dschungel”. War das die Absicht des EU-Türkei-Abkommens?

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Ich nehme an, Angela Merkel, Viktor Orbán und Alexis Tsipras hatten unterschiedliche Absichten, als sie die EU-Türkei-Erklärung im März 2016 beschlossen. Doch jeder kann die Erklärung auch heute lesen. Die geltenden Standards für menschenwürdige Behandlung von Asylsuchenden im griechischen und europäischen Recht werden darin nicht aufgehoben, sondern bekräftigt – darunter das Recht auf individuelle Prüfung von Asylanträgen. Die Zustände auf den Inseln verletzen seit Jahren geltendes Recht.

Wird das von den Verantwortlichen hingenommen?

Ja. Die kompliziertere Frage ist: Was muss geschehen, um diese Zustände zu beenden? Denn ohne die EU-Türkei-Erklärung wären die Zustände für Flüchtlinge und Asylsuchende in der Türkei, auf den griechischen Inseln und auf dem Festland ohne Zweifel schlimmer. Das rechtfertigt die Zustände nicht, aber es zeigt, was passieren müsste: Man müsste die Erklärung endlich ernsthaft umsetzen.

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Wer trägt die Verantwortung für die Zustände auf den Ägäis-Inseln?

Jeder, der die Zustände verändern könnte und das nicht tut. Hier muss die griechische Regierung ein Konzept vorlegen, was an Ressourcen notwendig wäre, um Menschen menschenwürdig zu versorgen und schnelle faire Asylentscheidungen treffen zu können. Denn dann müsste niemand lange auf den Inseln bleiben.

Warum sind überhaupt unbegleitete Minderjährige auf den Inseln?

Diese werden und wurden nie in die Türkei zurückgeschickt, es gibt also auch keinen Grund, ihren Asylantrag auf den Inseln zu prüfen. Andere EU-Staaten wie Deutschland müssen bereit sein, mehr zu tun. Ohne klare griechische Strategie, ohne einen umsetzbaren Plan, den es bis heute nicht gibt, und ohne die richtige Hilfe, die ebenfalls fehlt, wird es nur schlimmer werden.

Unter den Ankommenden sind immer mehr Menschen aus Afrika. Wie ist damit umzugehen?

Die meisten Menschen kommen weiterhin aus Afghanistan und Syrien. Aber egal woher Menschen kommen, alle haben das Recht auf eine menschenwürdige Behandlung und Versorgung und auf eine Bearbeitung von Asylanträgen. Das ist kein Privileg, es ist das geltende Recht. Nun ist das für 40.000 Menschen auf den Inseln in kurzer Zeit nicht zu schaffen. Diese müssen daher auf das Festland gebracht werden, wobei es dort ja auch keine adäquaten Aufnahmeplätze gibt. Und überdies verbessert dies die Zustände auf den Inseln nur, wenn dann nicht in zwei Monaten weitere 40.000 Menschen ankommen. Daher bleibt der einzige realistische Weg, die Zustände auf den Inseln zu verbessern, der, die Erklärung tatsächlich umzusetzen. Dazu braucht es einen neuen Stichtag und dann die Ernsthaftigkeit und Ressourcen, die seit März 2016 gefehlt haben.

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Die griechische Regierung plant den Bau geschlossener Flüchtlingslager für 20.000 Menschen auf den Inseln. Sie begründet dies mit schnelleren Asylverfahren. Halten Sie das für plausibel?

Wenn jeden Monat 10.000 oder mehr Menschen auf die Inseln kommen, sind das 120.000 im Jahr. Deutschland hat achtmal mehr Einwohner als Griechenland. Das ist, als ob eine Million Menschen in einem Jahr nach Deutschland kämen: ein zweites 2015. Das heißt konkret: Wenn es nicht gelingt, die Zahl der in Griechenland Ankommenden zu reduzieren und gleichzeitig Griechenland mehr zu helfen, auch durch die Verteilung von Flüchtlingen, wird jede Strategie Athens scheitern. Dazu muss man auch die Türkei einbinden, das Land mit den meisten Flüchtlingen in der Welt. Auch dort muss man die Hilfe für Millionen Flüchtlinge im europäischen Eigeninteresse fortsetzen.

Was sollte die Bundesregierung zur Bewältigung der Migrationsproblematik tun?

In der Ägäis entscheidet sich das Schicksal der 1951 beschlossenen Flüchtlingskonvention. Nun hat keine Regierung in den letzten Jahren einen besseren konkreten Vorschlag gemacht, im Einklang mit bestehendem Recht irreguläre Migration zu reduzieren, als die 2016 beschlossene Erklärung mit der Türkei. Es geht also darum, das zu tun, was die EU-Regierungen 2016 beschlossen haben: weiter Hilfe für Flüchtlinge in der Türkei, Aufnahme von Schutzbedürftigen aus der Türkei und aus Griechenland in geordneten Verfahren, mehr Asylbeamte aus ganz Europa für schnellere Verfahren auf den Inseln, mehr Rückführungen all jener, die keinen Schutz in der EU brauchen, alles mit dem Ziel, dass niemand länger als einige Wochen auf den Inseln sein muss. Und dazu menschliche Aufnahmebedingungen. Das ist schwierig, aber es ist machbar. Es ist die einzige Alternative zu mehr Chaos und mehr vermeidbarem Leiden.

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