Nürnberg erwartet Zehntausende Besucher

Evangelischer Kirchentag 2023 startet – im Zeichen des heiligen Streits

Bis Sonntag geht es hier um den Glauben, aber auch um die großen gesellschaftspolitischen Fragen: der 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag.

Bis Sonntag geht es hier um den Glauben, aber auch um die großen gesellschaftspolitischen Fragen: der 38. Deutschen Evangelischen Kirchentag.

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Wer solche Kritik sät, wird Kontroversen ernten. Thomas de Maizière weiß das, deshalb hat er den Abdruck seines „Zeit“-Interviews, das am Vortag für einigen Wirbel gesorgt hat, „ganz zufällig dabei“, wie er sagt. Denn die Frage ist natürlich unvermeidlich an diesem Mittwoch, am Tag der Eröffnung des 38. Evangelischen Kirchentags in Nürnberg, dessen Präsident er ist. Weshalb diese Vorwurfshaltung gegen die sogenannte Generation Z – und das ausgerechnet vor dem größten christlichen Laientreffen Deutschlands, das ganz wesentlich vom ehrenamtlichen Engagement junger Menschen lebt?

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De Maizière, neben Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sitzend, wie alle auf dem Podium der Pressekonferenz tragen sie den offiziellen Kirchentagsschal um die Schultern, zitiert sich selbst, um hier etwas geradezurücken. „Ich weiß gar nicht, wo Sie das herhaben, dass ich die Generation Z beschimpft hätte“, sagt er. Er habe doch ausdrücklich ihr Engagement in Klimafragen gelobt. Nur das mit dem Champagner, den – dieses polemische wie merkwürdige Bild hatte er gewählt – man sich nach Feierabend ins Homeoffice kommen lasse, das lässt er so stehen. Das schöne digitale Leben auf Kosten derer, die diese Dienstleistungen bitte schön auszuführen hätten, das geht de Maizière, dem ehemaligen Bundesminister, gegen den Strich. „Wenn das Diskussionen ausgelöst hat: nur zu.“

Und damit rein in den Kirchentag 2023, der – da hat de Maizière den Ton auf seine Art gesetzt – keiner in wattiger Selbstvergewisserung werden soll. Sondern einer des kultivierten Streits. Die Kirche, sie braucht Impulse, um eigene Antworten zu finden auf die drängenden Fragen der Gegenwart. „Ich hoffe“, sagt Heinrich Bedford-Strohm, der Vorsitzende der bayerischen Landeskirche, „dass von diesem Kirchentag ein Signal der Hoffnung für die ganze Gesellschaft ausgeht. Einer Hoffnung, die sich nicht abwendet von der Welt, sondern mit klaren Orientierungen für die Zukunft verbunden ist.“ Das ist der Anspruch. Können sie ihm hier in Nürnberg gerecht werden?

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Die Themen jedenfalls, über die zu reden sein wird, sind umfangreich, vermutlich ist das noch deutlich untertrieben. Als der Evangelische Kirchentag letztmals in Präsenz stattfand, 2019 in Dortmund, da war die Welt noch eine andere. Selbst 2021, beim digitalen Corona-Kirchentag, schienen die Dinge noch beherrschbarer als heute. Im Herbst jenen Jahres, als man sich für den Nürnberger Kirchentag die Losung „Jetzt ist die Zeit“ verpasst hatte, da zog Russland gerade seine Truppen an der ukrainischen Grenze zusammen. Mittlerweile tobt ein Angriffskrieg in Europa, der den christlichen Friedensbegriff infrage stellt, dazu spitzt sich die Klimakrise dramatisch zu. Die Welt steht am Kipppunkt. Das gilt gleichwohl für die Kirche.

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Die absolute Mehrheit der Kirchen ist futsch – gerade einem Markus Söder gibt das zu denken

„Viele Menschen glauben gar nicht mehr, dass es Gott gibt, wenn der alles so zulässt“, sagt Söder, für den der Nürnberger Kirchentag ein Heimspiel ist, das hier ist sein Stammland, seine Stadt. Dass die konfessionell ausblutet, ist ihm nicht entgangen: 22 Prozent der Menschen sind in Nürnberg noch Mitglied in der evangelisch-lutherischen Kirche, 19 Prozent sind Katholiken. Zahlen, die gerade einem CSUler wie Söder zu denken geben. Die absolute Mehrheit für die Kirche ist futsch, hier und im ganzen Land. „Die Kirche ist schwer in der Krise, seit vielen Jahren“, sagt Söder. „Die Abstimmung mit den Füßen ist erkennbar.“

Dazu passt, dass auch der Kirchentag, natürlich noch immer eine Großveranstaltung, in diesem Jahr mindestens eine halbe Nummer kleiner ausfällt. Zuletzt hatte es geheißen, man erwarte bis Sonntag bis zu 100.000 Besucher in Mittelfranken. Am Mittwochnachmittag waren allerdings erst 50.000 Tickets für alle fünf Tage verkauft, dazu weitere 10.000 Tageskarten. Trotzdem geben sich die Veranstalter erst einmal zufrieden. „Es hat in den vergangenen vier Jahren Veränderungen in der Gesellschaft gegeben, auch in der Eventbranche“, sagt Stephan Menzel, Kaufmännischer Vorstand des Kirchentags, „von daher halten wir das für ein gutes Ergebnis.“

Markus Söder (CSU) auf der Pressekonferenz zum Start des 38. Evangelischen Kirchentags neben dem früheren EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm.

Markus Söder (CSU) auf der Pressekonferenz zum Start des 38. Evangelischen Kirchentags neben dem früheren EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm.

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Egal, wie viele es am Ende tatsächlich werden: Sie können sich aus einem Mammutprogramm bedienen. Podiumsdiskussionen, Bibelarbeiten, Gottesdienste, Konzerte – rund 2000 Veranstaltungen machen die Stadt zu einer gigantischen Werkbank des Glaubens und der Debatte, gern auch kontrovers, ganz in de Maizières Sinne. Und einige Konstellationen versprechen tatsächlich Ecken und Kanten: Am Freitag etwa treffen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), Carla Hinrichs von der Letzten Generation und Ex-Siemens-Boss Joe Kaeser aufeinander. Später sitzen sich Carsten Breuer, Generalinspekteur der Bundeswehr, und der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer gegenüber, es geht dann, alles andere würde überraschen, um die militärische Unterstützung der Ukraine.

Man kann dem Kirchentagspräsidium nicht vorwerfen, es sich mit dem Programm in der Komfortzone der Frömmigkeit gemütlich gemacht zu haben. Der Umgang mit Verschwörungserzählungen steht auf dem Plan, das Erstarken der Rechten, Rassismus, das postkoloniale Erbe, und immer wieder die richtige Haltung in einer Zeit, die viele Gewissheiten über Bord geworfen hat. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) spricht mit Altbundespräsident Joachim Gauck über „Außenpolitisches Handeln in der Zeitenwende“, so ist ihre mit Spannung erwartete Podiumsdiskussion am Samstag überschrieben. Und, natürlich, der Bundeskanzler kommt: Olaf Scholz (SPD) stellt sich den Fragen unter dem ganz standesgemäß scholzhaften Titel „In bewegten Zeiten gemeinsam gestalten“. Und Söder? Legt die Bibel aus, ebenso wie CDU-Chef Friedrich Merz. „Das wird“, sagt de Maizière, „keine theologische Laienpredigt.“ Söder grinst. Zwischen Psalmen und Politik, da fühlt sich der macht- und glaubensbewusste Lutheraner wohl.

Nürnberg: Eine Stadt als Symbol der Hoffnung

Ortswechsel, vom gewaltigen Messezentrum in die Innenstadt, in der es Nachmittag geworden ist. Touristen mischen sich in den Gassen mit Pfadfindern, auf den Hauptmarkt in der Altstadt brennt die Sonne nieder, die Pegnitz fließt unbeeindruckt ihres Weges. Die erste Veranstaltung liegt bereits hinter den Besuchern, am NSU-Mahnmal ging es um Mitmenschlichkeit. Enver Simsek war hier als erstes Opfer der Neonazi-Gruppe ermordet worden, 23 Jahre ist das her. Fast 80 Jahre liegen die Nürnberger Prozesse gegen die NS-Hauptkriegsverbrecher zurück, fast 90 Jahre die Nürnberger Gesetze von 1935. Im Nationalsozialismus war Nürnberg Schauplatz der Reichsparteitage. Eine Stadt, aufgeladen mit der Geschichte des Zivilisationsbruches, mit dem Grauen, aber auch mit der Hoffnung, als Symbol der internationalen Gerichtsbarkeit. Eine würdige Kulisse für einen Kirchentag, auf dem das Verhältnis zu einer aus den Fugen geratenen Welt verhandelt wird.

Am frühen Abend steigt der Eröffnungsgottesdienst, Markus Söder und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sprechen im Anschluss Grußworte. Der 38. Deutsche Evangelische Kirchentag beginnt.

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