Welternährungsprogramm-Chef Martin Frick

„Die Hungerkrise ist nicht mit Heftpflastern zu lösen“

Eine Mutter aus Burkina Faso hält ihren zweijährigen Sohn Hama Sow, der wegen Unterernährung mit einer Magensonde behandelt wird. Die Hungerkrise in der Welt spitzt sich nach Angaben der Vereinten Nationen dramatisch zu.

Eine Mutter aus Burkina Faso hält ihren zweijährigen Sohn Hama Sow, der wegen Unterernährung mit einer Magensonde behandelt wird. Die Hungerkrise in der Welt spitzt sich nach Angaben der Vereinten Nationen dramatisch zu.

Berlin. Herr Frick, das Welternährungsprogramm spricht von einer sich verschärfenden Hungerkrise. Wie muss der G7-Gipfel darauf reagieren?

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Die Hungerkrise muss Chefsache sein, beim G7-Gipfel und in den Regierungen. Ich bin da optimistisch. Die Bundesregierung hat deutlich gemacht, dass sie sich langfristig engagieren will, um dieses Problem aufzunehmen. Es ist ein sehr gutes Signal, dass das Außen-, das Entwicklungs- und das Landwirtschaftsministerium gerade deutlich gemacht haben, dass sie dabei kooperieren werden. Das zeigt, dass die Frage der Ernährungssicherheit, die zentral ist für Frieden, auf der Leistungsebene angekommen ist. Und da gehört es hin.

Was muss die Globale Allianz für Ernährungssicherheit, für die Bundeskanzler Olaf Scholz wirbt, zutage fördern?

Ich hoffe sehr auf einen breiten und systemischen Ansatz. Als Sofortmaßnahme muss versucht werden, die Häfen im Schwarzen Meer wieder freizubekommen. Und natürlich braucht es mehr Geld für humanitäre Hilfe. Viele Länder stehen vor sehr akuten Schwierig­keiten. Aber es geht um mittel- und langfristige Maßnahmen, um die Ernährung vor allem in Subsahara-Afrika auf eine solidere Basis zu stellen.

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Landwirtschaftsminister: Ukraine wird für länger vom Weizenmarkt verschwinden

Die russische Invasion in die Ukraine wirkt sich bereits auf drei Ernten aus, so der ukrainische Landwirtschaftsminister.

An welche Maßnahmen denken Sie?

40 Prozent der globalen Kalorien werden aus drei Sorten bezogen: aus Weizen, Mais und Reis. Das ist so ähnlich wie unsere Abhängigkeit von Öl und Gas. Das ist politisch hochriskant und enorm schwierig für das Klima und die Biodiversität. Wichtig ist, bei den Lebensmitteln zu diversifizieren und vermehrt traditionelle und lokal angepasste Sorten anzupflanzen. So gibt es auch Ausweichmöglichkeiten, wenn sich durch Klimaveränderungen Anbau­bedingungen verändern. Um die Importabhängigkeit zu reduzieren, müssen außerdem Lebensmittel wieder mehr regional und lokal produziert werden.

Die Krise wird dadurch noch größer, als sie ohnehin schon ist, dass die Ukraine wegen des Kriegs nur noch einen Bruchteil ihres Weizens exportieren kann.

Ja. Über den Landweg sind seit Kriegsbeginn etwa 1,7 Millionen Tonnen Weizen aus der Ukraine herausgeschafft worden. In den verminten oder belagerten Schwarzmeerhäfen liegen noch mehr als 20 Millionen Tonnen Getreide. Dazu kommt demnächst die neue Ernte von 30 Millionen Tonnen. Das ist wegen des Kriegs weniger als sonst, aber es ist immer noch viel. Wenn die Lager in der Ukraine voll oder zerstört sind, ist das Risiko, dass die aktuelle Ernte einfach auf den Feldern verrottet.

Rhein bei Düsseldorf, extremes Niedrigwasser, Rheinpegel bei 84 cm, nach der langen Dürre fällt das linke Rheinufer, bei Düsseldorf Oberkassel trocken, Rheinturm, Rheinkniebrücke,, Düsseldorf, Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Europa

Es wird trocken: Diese Dürreszenarien kommen auf Deutschland zu

Deutschland verliert immer mehr Wasser. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe hat ausgemalt, welche weitreichenden Auswirkungen eine langanhaltende Dürre haben könnte. Es ist das Bild eines Landes im Katastrophenmodus.

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Was tun?

Es ist schwierig. Allein in Odessa wurden in Friedenstagen pro Tag vier Frachter abgefertigt, das sind viermal 50.000 Tonnen. Die größten Lastwagen, die in Europa zugelassen sind, transportieren 40 Tonnen. Mit dem Zug lässt sich etwas mehr transportieren. Aber in der Ukraine gibt es andere Schienenbreiten als in der EU. Da muss also jeder Güterwagen mühsam umgeladen werden. Dafür gibt es nicht ausreichend Kapazität. Es führt also kein Weg daran vorbei, den Seeweg wieder freizubekommen. Das ist natürlich heikel.

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Was passiert, wenn das nicht gelingt?

Das wäre ein doppeltes Problem. Die Weizenpreise würden dauerhaft hoch bleiben. Und der Ukraine würden wichtige Einnahmen wegbrechen.

Die gestiegenen Preise haben auch den Bedarf an humanitärer Hilfe erhöht. Was wird gebraucht?

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2019 gab es 135 Millionen Menschen, die akut unter Hunger litten. Im Dezember letzten Jahres haben wir schon Alarm geschlagen, weil sich diese Zahl auf 276 Millionen Menschen erhöht hatte. Das lag vor allem an den Folgen der Corona-Pandemie und am Klimawandel. Durch den Brandbeschleuniger Ukraine-Krieg ist die Zahl der Hungernden auf 345 Millionen gestiegen. Vergangenes Jahr hatten wir etwas über 9 Milliarden Dollar und konnten damit 128 Millionen Menschen unterstützen – 43 Prozent weniger als nötig gewesen wäre. Dieses Jahr bräuchten wir 21,5 Milliarden Dollar. Aber vermutlich werden wir bestenfalls die Hälfte davon bekommen. Nicht zuletzt deswegen ist es so wichtig, auch mittel- und langfristig zu denken. Sonst laufen wir dem Bedarf immer mehr hinterher.

2019 gab es 135 Millionen Menschen, die akut unter Hunger litten. Im Dezember letzten Jahres haben wir schon Alarm geschlagen, weil sich diese Zahl auf 276 Millionen Menschen erhöht hatte.

Martin Frick,

Direktor des UN‑Welternährungsprogramms in Deutschland

Wäre es gut, wenn die G7 noch mal eine deutliche Summe drauflegen würden?

Es wäre gut. Denn Hunger kann Länder destabilisieren und ist damit eine zentrale Frage von Frieden und Sicherheit. In Ägypten muss die Regierung dieses Jahr mehr als 3,5 Milliarden Dollar aufwenden, um den Brotpreis niedrig zu halten. Geschieht das nicht, drohen Unruhen. Und so ist es auch anderswo: 36 Länder verzeichnen eine Inflation von mehr als 25 Prozent bei den Lebensmittelpreisen. Das ist natürlich eine Zeitbombe.

Was würden Sie ins G7-Communiqué schreiben?

Wichtig wäre, wenn sich die G7-Länder auf ein gemeinsames Engagement für humanitäre Soforthilfe verpflichteten. Diese Krise muss solidarisch gelöst werden. Und die Entwicklungs­länder vor allem im südlichen Afrika müssen ein Zeichen bekommen, dass sie nicht vergessen werden – schon allein, um sie resilienter gegen Desinformationen zu machen. Und es muss ein gemeinsames Verständnis geben, dass diese Krise nicht mehr mit Heftpflastern zu lösen ist, sondern dass man das System verändern muss.

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Wie können sich die betroffenen Länder sicher sein, dass aus den schönen Worten auch Taten folgen?

Die G7 sind kein Club, der rechtlich verbindliche Abmachungen trifft. Mehr als eine politische Absichtserklärung wird nicht möglich sein. Aber in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass zumindest Deutschland seine freiwilligen G7-Verpflichtungen sehr ernst nimmt. Deswegen bin ich mir sicher, dass den Worten Taten folgen. Andere Länder wie Frankreich und Groß­britannien könnten das als Ermutigung begreifen, ebenfalls mehr zu tun.

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