„Gefährliche Botschaft an die Täter“: Türkei verlässt Abkommen zum Schutz von Frauen endgültig
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Jetzt ist es rechtskräftig: Die Türkei hat mit Wirkung vom Donnerstag die Istanbul-Konvention aufgekündigt.
© Quelle: Emrah Gurel/AP/dpa
Athen. Er hat 2011 als Erster unterschrieben, und er zog jetzt als Erster seine Unterschrift zurück: Mit einem Federstrich verfügte der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdogan den Austritt der Türkei aus dem Abkommen des Europarats zum Schutz von Frauen vor Gewalt, der Istanbul-Konvention, so genannt nach dem Ort der Unterzeichnung vor zehn Jahren.
Am Dienstag entschied der Staatsrat, das Oberste türkische Verwaltungsgericht mit drei zu zwei Stimmen: Erdogan kann die Kündigung im Alleingang vollziehen, ohne das Parlament zu fragen. Der Austritt wurde am Donnerstag rechtskräftig.
Damit ist die Türkei das erste Mitglied des Europarats, das eine internationale Menschenrechtskonvention aufkündigt. Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, sieht darin „einen erschreckenden Präzedenzfall“. Die Türkei habe damit „die Uhr für Frauenrechte um zehn Jahre zurückgestellt“. Der von Staatschef Erdogan verfügte Austritt aus der Konvention sende eine „gefährliche Botschaft an die Täter, die missbrauchen, verstümmeln und töten: Sie können dies ungestraft tun“, sagte Callamard.
Gleichstellung der Geschlechter in Rechtssystemen
Das Abkommen bildet einen Rechtsrahmen, um Gewalt gegen Frauen zu verhüten und zu bekämpfen. Es verpflichtet die Mitgliedsstaaten zur Gleichstellung der Geschlechter in ihren Rechtssystemen. Die Regierungen sollen körperliche und sexuelle Gewalt gegen Frauen verfolgen, Zwangsheiraten, Genitalverstümmelung und Zwangsabtreibungen verbieten sowie Hilfsangebote für Frauen verbessern. Der vor zehn Jahren unterzeichneten Konvention sind inzwischen 45 Staaten beigetreten. 34 Länder haben sie ratifiziert. Zu den ersten gehörte 2012 die jetzt wieder ausgetretene Türkei.
Dort wurde seit Langem kontrovers über das Abkommen diskutiert. Schon 2017 hatte Erdogan unter Anspielung auf die Konvention erklärt, die Türkei brauche „keine ausländischen Modelle, um die Rechte unserer Frauen zu schützen“. Der türkische Staatschef hält nach eigener Aussage die Gleichberechtigung von Mann und Frau für „widernatürlich“. Anfang 2020 ordnete Erdogan eine Überprüfung des Abkommens an.
Im März dieses Jahres verfügte er mit einem Dekret den Austritt. Das Abkommen werde von einer Gruppe von Menschen dazu benutzt, „Homosexualität zu normalisieren“, hieß es zur Begründung aus dem Präsidentenpalast. Dies sei ein Verstoß gegen die sozialen und familiären Werte der Türkei.
Islamisch-konservativer Kernwählerschaft entgegenkommen
Der Austritt löste nicht nur in der Türkei, sondern auch international heftige Proteste aus, so beim Europarat, in der Europäischen Union und in den USA. Kritiker meinen, Erdogan wolle angesichts sinkender Umfragewerte für seine Regierungspartei AKP mit der Aufkündigung der Konvention seiner islamisch-konservativen Kernwählerschaft entgegenkommen.
Vizepräsident Fuat Oktay erklärte, die Türkei solle beim Thema Frauenrechte „nicht andere Länder imitieren“. Oktay meint: „Die Lösung liegt in unseren Bräuchen und Traditionen“. Genau dort scheint aber die Wurzel des Problems zu liegen. Nach einer Studie der UNO erleiden 38 Prozent aller türkischen Frauen im Laufe ihres Lebens physische oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner.
Nach Angaben der Organisation „Wir werden Femizide stoppen“ wurden seit Beginn dieses Jahres in der Türkei 189 Frauen von Männern getötet. Im vergangenen Jahr dokumentierte die Organisation 409 Fälle. Die Täter waren in den meisten Fällen Partner oder Familienmitglieder.