Große Pullitik: Warum trägt der Kanzler Schlabberlook?
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Kanzler ohne Anzug: Olaf Scholz reist im grauen Pullover nach Washington.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Hannover. Er hat es wieder getan: Bundeskanzler Olaf Scholz trägt Schlabberlook. In diesem Fall: einen grauen Pullover, darunter ein schwarzes T-Shirt - und das alles in einem Airbus A340 der Luftwaffe, auf dem Weg zum Antrittsbesuch nach Washington. Fotos von Journalistinnen und Journalisten zeigen den SPD-Politiker an Bord der Maschine, immer leicht schmunzelnd, in der Hand ein Mikrofon.
In den sozialen Netzwerken wird der Pulli-Auftritt am Montag natürlich gleich zum Meme – und spöttisch kommentiert. „Ich bin froh, heute die Bingozahlen verkünden zu dürfen“, schreibt beispielsweise ein Nutzer auf Twitter über das Bild. Als „Baumarkt-Look“ oder „Til-Schweiger-Pulli“ bezeichnen andere den Kleidungsstil des Kanzlers. Und ein weiterer meint: „Wenn Olaf Scholz das mit dem grauen Schlabberpulli auch im Oval Office und bei CNN durchzieht, könnte das Deutschlands Bild in der Welt auf Generationen hin prägen.“
Andere wiederum loben Scholz für den lockeren Stil. Einige versuchen gar herauszufinden, welche Pulli-Marke der Kanzler da eigentlich trägt. „Sieht sehr nach OMEN aus. Teuer. Ausverkauft – und die spezielle Stricktechnik macht ‚das Kleidungsstück zu einem zuverlässigen Begleiter für viele, viele Jahre‘“, kommentiert jemand. Eine Nutzerin will wissen: „Wo gibt‘s den Pulli von Olaf Scholz zu kaufen, der sieht heftig bequem aus.“
Nicht das erste Mal
Schlabberpulli und Alltagslook? Tatsächlich ist der Kleidungsstil des Kanzlers kein Einzelfall, sondern ein inzwischen wiederkehrendes Element. Schon im vergangenen Jahr reiste Scholz, damals noch als Finanzminister, ganz leger im dunkelblauen T-Shirt und graubrauner Hose in die USA. In der Hand: eine Aktentasche, die er auf seiner Reise natürlich selbst trug. Schon damals reichten die Reaktionen von Spott über Lob bis Fassungslosigkeit.
Auch bei weniger formellen Anlässen greift Scholz immer wieder zum Pullover oder Shirt, etwa als er sich öffentlich impfen ließ. Handelt es sich nur um einen zufälligen Griff in den Kleiderschrank? Oder steckt vielleicht doch eine tiefere Botschaft hinter dem Alltagslook?
Locker statt verklemmt
An Zweiteres glaubt zumindest Karl-Martin Obermeier. Der Experte für politische Kommunikation und emeritierte Professor für Public Relations und Journalismus an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen erkennt ein Muster hinter Scholz‘ Kleidungswahl.
„Formal könnte man sagen, der Kanzler ist privat unterwegs, das ist ein langer Flug, der macht es sich bequem“, analysiert Obermeier gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Ich glaube aber, dass in diesem Bereich Politik nicht so gedacht wird.“
Vielmehr sei der Auftritt ein Signal – und zwar in zweierlei Richtungen. Zum einen an die Bürgerinnen und Bürger: „Die legere Kleidungswahl zeigt: ‚Schaut mal, ich bin nicht so ein steifer Typ, wie ihr euch immer vorstellt. Ich kann auch mal salopp daherkommen‘.“ Das unterscheide Scholz von Altkanzlerin Angela Merkel, die stets zu Blazer und Hosenanzug gegriffen habe.
Ein Besuch bei Freunden
Das andere Signal richte sich an die Gesprächspartner, glaubt Obermeier. „Ich bin casual unterwegs, das ist ein Gespräch unter Freunden.“ Der Experte vermutet, dass Scholz bei anderen Dienstreisen zu einem anderen Outfit greifen könnte: „Wenn er zu Putin fliegt, wird er sich anders kleiden, da bin ich mir sicher.“
Nutzerinnen und Nutzer auf Twitter haben inzwischen die Theorie, hinter dem Pulli-Auftritt des Kanzlers könne ein ausgefeilter PR-Coup stecken. Scholz sei in den vergangenen Wochen zu wenig präsent gewesen, schreibt eine Kommentatorin – ein solches Foto errege Aufmerksamkeit und löse die erwartbaren Diskussionen aus.
„Ich glaube nicht, dass das so strategisch gedacht wird“, entgegnet Obermeier. „Es wird wohl keiner seiner Berater sagen: ‚Bitte zieh morgen einen Pullover an‘. Ich glaube aber, dass es eine bewusste Entscheidung vor dem Kleiderschrank ist, wenn der Kanzler seinen Koffer packt.“
Brandt im Jeanshemd, Harris in Turnschuhen
Dass Politikerinnen und Politiker zuweilen zu legerer Kleidung greifen, ist derweil keine Seltenheit. Der SPD-Politiker Sigmar Gabriel beispielsweise trug zu seinen Amtszeiten auf Langstreckenflügen in Regierungsfliegern häufig Poloshirt und Fleecejacke. Selbst Altkanzlerin Merkel griff zu Strickjacke und Stoffhose. Der große Unterschied: Merkel ließ sich im Alltagsoutfit niemals fotografieren.
Andere Politikerinnen und Politiker setzten den Freizeitlook in der Vergangenheit derweil ganz gezielt ein. Obermeier nennt hier beispielsweise ein inzwischen legendäres Foto Willy Brandts, das ihn im Jeanshemd, mit Zigarette im Mundwinkel und einer Mandoline unter einem Coca-Cola-Sonnenschirm zeigt. Entstanden war das Bild im Juli 1976 auf einer Wanderung des Altkanzlers durch Ostwestfalen-Lippe. Auf einer Rast griff Brandt, ganz bürgernah, zur Musikinstrument – ein Mitarbeiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit beim SPD-Parteivorstand drückte mit seiner Kamera ab. Die Alltagskleidung hatte damals wohl ganz praktische Gründe – Symbolwirkung entfaltete das ikonische Foto dennoch.
US-Vizepräsidentin Kamala Harris ließ sich im vergangenen Jahr in Jeans und Turnschuhen auf dem Cover der Vogue ablichten. Auch hier hagelte es wegen der ungewohnten Lockerheit teilweise Kritik. Ihren Wahlsieg verkündete Harris derweil auf Instagram im Jogging-Outfit: „We did it, Joe.“
Kein Zufall
Auch der Auftritt von Joschka Fischer im Jahre 1985 fällt in diese Kategorie. Damals erhielt erstmals ein Grünen-Politiker einen Kabinettsposten – seinen Amtseid als Minister in Hessen legte Fischer in Turnschuhen ab. Ein Tabubruch, eine Provokation und ein Zeichen für einen Neuanfang. Fischers Schuhe sind heute im Deutschen Schuhmuseum von Hauenstein ausgestellt.
Ob es der Pulli von Olaf Scholz auch einmal in ein Museum schaffen wird? Klar ist: Diskussionen hat der Auftritt im Flieger durchaus ausgelöst – und reiner Zufall war die Kleidungswahl offenbar nicht.