Grünen-Chef Omid Nouripour: „Wir brauchen bei der Migration attraktivere Zugänge“
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Omid Nouripour, Co-Vorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, beim Interview im Berliner RND-Büro.
© Quelle: Florian Gaertner/photothek.de
Berlin. Herr Nouripour, wie fahren Sie eigentlich in den Urlaub – und mit welchem Verkehrsmittel?
Ganz ehrlich, ich weiß noch gar nicht genau, wohin. Aber ich freue mich auf die Zeit mit meiner Familie.
Und ob Grönland oder Hawaii, das ist Ihnen egal?
Zugegeben, ich bin nicht so der Kältemensch. Daher halte ich es mit einem ehemaligen Fußballspieler: Ob Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien!
Gegen Auto oder Flugzeug hätten Sie keine Einwände?
Kommt darauf an. In die Mark Brandenburg mit dem Hund geht es jedenfalls nicht mit dem Flugzeug.
Aber Sie hätten auch dagegen nichts?
Meine Eltern sind Ingenieure für Flugsicherung. Ich habe während meiner Kindheit deshalb viel Zeit in Flugzeugen verbracht und das sehr genossen. Das hat aber nichts damit zu tun, dass das Fliegen, so schnell es geht, CO₂-neutral werden muss. Daran arbeitet die Industrie bereits. Und natürlich müssen wir Alternativen attraktiver machen, gerade bei Reisen im Inland.
Insgesamt gibt es ja bei der Bahn ebenso wie im Flugverkehr erheblichen Personalmangel, der hier wie dort zu Verhältnissen führt, die wie Kollaps aussehen. Was kann man denn gegen diesen Personalmangel tun?
Es ist gut, dass jetzt kurzfristig Menschen aus der Türkei angeworben werden. Doch unter dem Strich gibt es in Deutschland in allen Bereichen zu wenige Arbeitskräfte. Das gilt nicht nur für Fachkräfte, sondern insgesamt. Mir sagen Ökonomen, dass uns Arbeitskräfte für 4,2 Milliarden Arbeitsstunden bis 2030 fehlen. Das ist eine gewaltige Zahl, und es braucht dringend Lösungen.
Auch damit uns der Umbau zur Klimaneutralität gelingt. Es braucht schließlich Menschen, die die Solaranlage auf den Dächern montieren oder die Wärmepumpen einbauen. Im öffentlichen Dienst ist das nicht anders. Es fehlen Leute in den Schulen, in den Gesundheitsämtern, in den Kliniken, bei der Polizei. Das haben wir ja besonders deutlich in der Pandemie gesehen.
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Wenn der Drang, alles sofort erledigen zu müssen, zum Problem wird
Manche Menschen schieben unangenehme Aufgaben ewig vor sich her. Die sogenannte Prokrastination gilt als größte Hürde im Selbstmanagement. Doch auch der Drang, alles sofort erledigen zu müssen, hat seine Tücken – und kann zu psychischen Problemen führen. Was hilft.
Und wie ist dem Herr zu werden?
Über eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, wie etwa durch mehr und bessere Betreuungsangebote für Kinder. Und über eine Verstärkung der Weiterbildung und Qualifizierung. Und dann müssen wir auch über die Migration nach Deutschland sprechen. Wir müssen schauen, dass Menschen, die zu uns kommen, leichter der Einstieg in den Arbeitsmarkt gelingt. Nur Menschen aufzufordern, länger zu arbeiten oder später in Rente zu gehen, ist sicherlich nicht die Lösung des Problems.
Sie meinen Christian Lindner, der mehr Überstunden gefordert hatte.
Die Debatte ist nicht neu, aber blendet aus, dass Überstunden für viele Menschen ohnehin schon Realität sind. Schauen Sie sich die Überstundenkonten bei der Polizei oder beim Zoll an. Wir müssen das Problem doch an der Wurzel packen.
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Christian Lindner (FDP), Bundesminister der Finanzen, ist mit seinem Vorschlag zur 42-Stunden-Woche auf breite Kritik gestoßen.
© Quelle: Kay Nietfeld/dpa
Was schwebt Ihnen in der Migrationspolitik genau vor?
Unter den Menschen, die derzeit aus der Ukraine in großer Not zu uns kommen, sind beispielsweise viele hoch qualifizierte und gut ausgebildete Leute. Die meisten möchten verständlicherweise so schnell wie möglich wieder nach Hause. Nur ist das wegen des Krieges nicht möglich. Wir sollten deshalb schauen, wie und wo wir diese Menschen schnell in den Arbeitsmarkt integrieren können. Und welche Perspektiven wir für sie schaffen können, damit sie vielleicht länger bleiben und bei uns arbeiten möchten.
Was heißt Angebote machen für Ukrainer?
Wir sollten den Menschen beispielsweise ermöglichen, dass sie das, was sie mitbringen – Abschlüsse und Ausbildungen –, auch einbringen können. Generell ist es notwendig, dass wir bei der Migration wieder über das Punktesystem sprechen, das die Süssmuth-Kommission schon vor 20 Jahren vorgeschlagen hat und das wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Wir brauchen attraktivere Zugänge.
Kanada zum Beispiel arbeitet mit so einem Punktesystem seit Jahrzehnten hervorragend und gewinnt oft beim globalen Wettbewerb um die besten Talente. Dabei müssen wir auch bedenken, dass zuwandernde Fachkräfte Familien haben können. Da sollten wir nicht sagen: Ihr dürft kommen, aber eure Familien nicht.
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Am Montag trifft sich Kanzler Olaf Scholz mit Gewerkschaften und Arbeitgebern, um über Entlastungen der Bürger zu sprechen. Er hat steuerfreie Einmalzahlungen vorgeschlagen und die Gewerkschaften im Gegenzug zur Zurückhaltung bei den Lohnforderungen aufgerufen. Kann das funktionieren?
In der Ampel sind sich alle einig, dass die Gespräche im Rahmen der konzertierten Aktion keine Tarifverhandlungen ersetzen. Allerdings ist auch klar, dass die Belastungen für die Bürger jetzt so groß werden, dass der Staat allein das nicht wird ausbalancieren können.
Keine Einmalzahlungen?
Welche Maßnahmen genau folgen, darüber werden wir miteinander sprechen.
Ist denn bei der Entlastung der Bürger schon genug getan?
Wir haben zwei große Entlastungspakete im Umfang von etwa 30 Milliarden Euro geschnürt. Einiges wirkt schon, wie der Kindersofortzuschlag oder das 9-Euro-Ticket, andere Maßnahmen werden erst noch greifen. Gleichzeitig sehen wir natürlich, dass die Energiepreise drastisch steigen und vor allem die Menschen unter Druck setzen, die ohnehin wenig Geld haben. Da müssen wir gezielt unterstützen.
Christian Lindner sagt, zusätzliche Haushaltsmittel gebe es nicht.
Er spricht von diesem Jahr. Und ja, wir müssen zunächst die Wirkung der bisherigen Maßnahmen anschauen. Aber gerade im Herbst und Winter werden die Heizkosten voraussichtlich stark steigen. Und dann werden wir auch über Entlastungen sprechen.
Hat er recht, wenn er sagt, dass das nächste Paket erst im nächsten Jahr kommen soll?
Über weitere Entlastungen und den richtigen Zeitpunkt dafür wird unter anderem im Rahmen der konzertierten Aktion beraten.
Sollte das 9-Euro-Ticket verlängert werden? Es ist ja offenbar sehr erfolgreich.
Das ist ein Erfolgsmodell, das zweierlei zeigt. Erstens: Es gibt einen riesigen Bedarf für bezahlbaren öffentlichen Personennahverkehr. Und zweitens müssen Bus- und Bahn-Netze weiter ausgebaut werden. Wir werden hier also auch zusätzliche Mittel brauchen. Das 9-Euro-Ticket werden wir nach den vereinbarten drei Monaten auswerten. Aber es ist klar, dass wir den ÖPNV auch langfristig günstiger und attraktiver machen müssen.
Funktioniert das alles mit dem Einhalten der Schuldenbremse, wie es Lindner vorhat?
Für den Haushalt 2023 hat sich das Kabinett gerade darauf verständigt. Entscheidend ist, dass wir bei der Digitalisierung, beim Klimaschutz und bei der Infrastruktur nun endlich investieren. Das kostet Geld. Die Kosten für Inflation, der Krieg in der Ukraine und die anhaltende Corona-Pandemie kommen noch obendrauf. Da müssen wir handlungsfähig bleiben.
Es geht in der Koalition jedenfalls härter zu, als der Zauber während der Koalitionsverhandlungen vermuten ließ.
Es wäre verwunderlich, wenn wir bei der Größe der Aufgaben nicht auch mal miteinander streiten und diskutieren würden.
Aber Sie haben einen neuen Stil versprochen. Und jetzt geht es zu wie in jeder Koalition.
Wir sind angetreten, das Land zu modernisieren, und das tun wir. Dass es unterschiedliche Ansichten über den richtigen Weg geben kann, gehört dazu. Und dann gibt es eben auch mal eine Nachtsitzung, in der wir um die besten Lösungen ringen. Wie zum Beispiel die Entlastungsmaßnahmen, unter anderem das 9-Euro-Ticket.
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Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD, Mitte) steht mit den Kabinettsmitgliedern vor dem Schloss Meseberg in Brandenburg, wo sich das Bundeskabinett im Mai zu einer Klausur traf (Archiv).
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Hält die Koalition bis 2025?
Aber ja. Wir haben viel vor – und vor uns liegen die großen Herausforderungen, die mit der Aggression Russlands gegen die Ukraine einhergehen. Umso wichtiger ist es, dass Deutschland und Europa zusammenstehen und handlungsfähig sind. Ein geschwächtes Europa ist genau das, was Putin will.
Wo wir jetzt beim Krieg sind: Die Grünen kommen aus der Friedensbewegung. Wie kommt es, dass zumindest die Parteispitze jetzt so besonders deutlich Waffenexporte und Aufrüstung unterstützt?
Wir Grüne haben seit Mitte der 1990er-Jahre, als in Srebrenica und in Ruanda grausame Verbrechen begangen wurden, darum gerungen, was es heißt, Friedenspartei zu sein. Das Ergebnis ist, dass Anwendung militärischer Gewalt nie gut ist, die Unterlassung aber zuweilen zu noch größerem Übel führen kann. Die Grünen haben sich auf Parteitagen mehrfach klar zur Schutzverantwortung der UN und zum Vorrang des Völkerrechts bekannt.
Dazu gehört das Recht auf Selbstverteidigung. Deswegen liefern wir Waffen an die Ukraine, und deswegen müssen wir die Bundeswehr, die in einem besorgniserregenden Zustand ist, besser ausstatten. Sie muss ihren Beitrag zur Landes- und Bündnisverteidigung leisten können. Es geht bei diesem Krieg auch um eine systemische Auseinandersetzung zwischen Totalitarismus und Demokratien. Da muss unsere Position klar sein.
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Die Grünen und ihre Parteispitze haben durch den Ukraine-Krieg eine starke Kursänderung vollführt.
© Quelle: Michael Kappeler/dpa
Wäre es sinnvoll, vermehrt das Gespräch mit Russland zu suchen? In offenen Briefen von Intellektuellen aus Deutschland wird das immer wieder gefordert.
Manche dieser Briefe sind ein bisschen bizarr. Sie blenden aus, dass die Außenministerin und viele unserer Partner bis zur letzten Minute Gespräche geführt und alles getan haben, damit es nicht zu diesem Krieg kommt. Und sie blenden aus, dass wir seit der Annexion der Krim 2014 endlose Gesprächstermine hatten. Die Gespräche sind immer sinnloser geworden in den letzten Jahren, weil Russland sich echten Diskussionen verweigert hat.
Aber trotzdem waren und sind wir gesprächsbereit, in der Hoffnung, dass sich etwas bewegt. Eine Befriedung des Konfliktes ist grundsätzlich nur auf dem Verhandlungsweg denkbar. Aber dazu muss es für die Ukraine die Möglichkeit geben, auf einer fairen Basis zu verhandeln. Diese Fairness wird von Russland derzeit nicht gewährt.
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Stimmt es Sie optimistisch, dass Russland nun wohl eine Insel im Schwarzen Meer geräumt hat?
Das ist eine Momentaufnahme. Auch wenn es solche Momente gibt, kann man derzeit nicht davon ausgehen, dass sich das Blatt gewendet hat.
Können Sie erklären, warum sich Deutschland weigert, Schützen- und Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern?
Wir reden täglich mit der Ukraine und mit unseren Partnern und versuchen, die benötigte Hilfe zur Verfügung zu stellen – unter Berücksichtigung, dass die Nato nicht in den Krieg gezogen wird. Die Lage ändert sich ständig. Deswegen kann sich auch die Haltung zu einzelnen Waffensystemen ändern. Entschieden wird das nur gemeinsam mit internationalen Bündnispartnern. Es gibt auch viele frustrierende Sachzwänge wie fehlende Munition und lange Ausbildungszeiten.
Um die Türkei dazu zu bewegen, dem Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens zuzustimmen, wurden Konzessionen im Umgang mit den Kurden gemacht, die von der Türkei als Terroristen deklariert werden. Ist der Beitritt zu teuer erkauft?
Der absehbare Beitritt Finnlands und Schwedens zur Nato ist erfreulich, aber beim Umgang mit den Kurden haben wir sehr viel Gesprächsbedarf mit der Türkei. Wegen des aufziehenden türkischen Wahlkampfs ist das momentan nicht ganz einfach. Auch in der Türkei finden allerdings viele, dass es einen Weg geben muss zu den Friedensgesprächen mit den Kurden, die Staatspräsident Erdogan aufgekündigt hat.
Schauen wir noch kurz auf den G7-Gipfel. Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich zufrieden gezeigt, insbesondere mit dem von ihm initiierten Klimaclub. Bleiben mehr als schöne Bilder und ein plakativer Titel?
In Elmau gab es mehr als schöne Fotos. Es gab ein glasklares und sehr wichtiges Signal der Geschlossenheit der führenden Demokratien der Welt. Die Beschlüsse zum Klimaschutz zeigen, dass man nicht nur schaut, wo man Gas einkaufen kann, sondern sich sehr bewusst ist: Der Klimaschutz darf auch in der Krise nicht vernachlässigt werden. Dafür ist die Lage zu dramatisch.
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